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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ich erledigt. Ich stürzte ab wie ein toter Spatz und knallte mit der Stirn auf die Kante einer metallenen Sitzlehne. Der Aufprall war so heftig, dass ich auf der Stelle das Bewusstsein verlor.
    Das nachfolgende Chaos habe ich verpasst, aber nach allem, was ich gehört habe, muss es ein Heidenspektakel gewesen sein: neunhundert Leute, die schreiend durcheinanderrannten, ein Ausbruch von Massenhysterie, die sich im Saal ausbreitete wie ein Lauffeuer. So wenig es meine Absicht gewesen sein mochte, mein Absturz hatte doch eins bewiesen und ein für alle Mal klargestellt: Die Darbietung war echt. Ich war nicht an unsichtbaren Drähten aufgehängt, ich hatte keine Heliumballons unter den Kleidern versteckt, keine geräuschlosen Apparate um die Hüfte geschnallt. Die Zuschauer reichten meinen leblosen Körper im Saal herum und betasteten und zwickten mich mit neugierigen Fingern wie ein medizinisches Präparat. Sie zogen mir das Kostüm aus, sie blickten mir in den Mund, sie spreizten meine Arschbacken auseinander und spähten mir ins Spundloch, und nicht einer von ihnen fand irgendwas, das Gott nicht selbst dort hingetan hatte. Unterdessen war der Meister hinter der Bühne hervorgestürzt und kämpfte sich zu mir durch. Nachdem er über neunzehn Sitzreihen gesprungen war und mich dem letzten Paar Arme entrissen hatte, war man sich allseits einig: Walt der Wunderknabe war über jeden Zweifel erhaben. Die Vorführung war kein Schwindel, was man da sah, war echt. Amen.
    In dieser Nacht kamen zum ersten Mal die Kopfschmerzen. Dass meine Bruchlandung auf der Sitzlehne unangenehme Nachwirkungen hatte, war kaum verwunderlich. Aber dieser Schmerz war ungeheuer – ein entsetzliches Dröhnen wie von einem Presslufthammer, ein endloses Prasseln von Hagelkörnern an die Innenwände meines Schädels, das mich mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf riss. Der Meister und ich hatten nebeneinanderliegende Zimmer mit einem gemeinsamen Bad dazwischen, und als ich den Mut gefunden hatte, mich aus dem Bett zu wälzen, taumelte ich zum Badezimmer und betete darum, im Arzneischrank ein paar Aspirin zu finden. Völlig benommen von dem rasenden Schmerz, merkte ich gar nicht, dass im Bad bereits Licht war. Oder falls doch, machte ich mir jedenfalls keine Gedanken, wieso dort um drei Uhr morgens das Licht an sein sollte. Wie ich bald feststellte, war ich nicht der Einzige, der zu dieser unchristlichen Zeit das Bett verlassen hatte. Als ich die Tür aufmachte und den grellweiß gekachelten Raum betrat, stieß ich fast mit Meister Yehudi zusammen. Er stand in seinem lavendelfarbenen Seidenpyjama vor dem Waschbecken, hielt sich schmerzverkrümmt mit beiden Händen daran fest und keuchte und würgte, als ob seine Eingeweide in Flammen stünden. Der Anfall ging noch zwanzig, dreißig Sekunden weiter, und er war so schrecklich anzusehen, dass ich darüber fast meine eigenen Schmerzen vergaß.
    Als er mich bemerkte, gab er sich alle Mühe, den Vorfall runterzuspielen. Er verzog das schmerzverzerrte Gesicht zu einem gekünstelten Lächeln; er richtete sich auf und warf die Schultern zurück; er strich sich mit beiden Händen die Haare glatt. Ich wollte ihm sagen, er könne mit der Schauspielerei aufhören, sein Geheimnis sei mir jetzt sowieso bekannt, aber ich hatte solche Schmerzen, dass mir die Worte nicht von den Lippen kamen. Er fragte mich, warum ich nicht schliefe, und als er von meinen Kopfschmerzen erfuhr, übernahm er sofort die Rolle des Arztes; er rannte hin und her, schüttelte Aspirintabletten aus einem Fläschchen, nahm ein Glas und füllte es mit Wasser, untersuchte die Beule auf meiner Stirn. Bei alldem redete er wie ein Buch, so dass ich überhaupt nicht zu Wort kam.
    «Wir sind schon ein Paar, was?», sagte er, als er mich in mein Zimmer trug und ins Bett legte. «Erst machst du eine Bruchlandung und haust dir die Birne ein, und dann überfresse ich mich an verdorbenen Venusmuscheln. Ich sollte mir abgewöhnen, diese Scheißdinger zu essen. Jedes Mal wird mir schlecht davon.»
    Dafür, dass er sich diese Geschichte spontan ausgedacht hatte, war sie gar nicht übel, aber er konnte mir nichts vormachen. Sosehr ich ihm glauben wollte, ich ließ mich keine Sekunde lang davon täuschen.

Am nächsten Nachmittag war das Schlimmste überstanden. Von den Kopfschmerzen hielt sich nur noch ein dumpfes Pochen an der linken Schläfe, aber das warf mich nicht um. Da ich die Beule rechts an der Stirn hatte, kam es mir unlogisch vor, dass dort nicht

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