Mr. Vertigo
lange, zermürbende Strecke. Es gab weder Superhighways noch Howard Johnsons, keine sechsspurigen Kegelbahnen von Küste zu Küste, man musste einfach der Straße folgen, die in die richtige Richtung führte, und dabei jede Kleinstadt und jedes Dorf am Weg mitnehmen. Wenn man hinter einem Farmer steckenblieb, der mit seinem Traktor eine Ladung Heu durch die Gegend kutschierte, hatte man eben Pech gehabt. Wenn irgendwo eine Straße aufgerissen wurde, musste man kehrtmachen und sich eine andere suchen, was nicht selten stundenlange Umwege bedeutete. So waren damals die Spielregeln, aber ich kann nicht sagen, dass mich das Schneckentempo störte. Ich war bloß Mitfahrer, und wenn ich Lust hatte, ein, zwei Stunden auf dem Rücksitz zu pennen, konnte mich nichts davon abhalten. Ein paarmal, wenn wir auf besonders verlassene Strecken gerieten, ließ mich der Meister ans Steuer, aber das geschah nur selten, achtundneunzig Prozent der Fahrerei übernahm er selbst. Das wirkte irgendwie hypnotisierend auf ihn, und nach fünf, sechs Tagen war er in einen schwermütigen, nachdenklichen Zustand verfallen, aus dem er kaum noch herausfand. Wir waren jetzt mitten im Landesinnern, endlos spannte sich der Himmel über der gewaltigen eintönigen Ebene, und die alles umhüllende Luft schien seinen Enthusiasmus zu dämpfen. Vielleicht dachte er an Mrs. Witherspoon, vielleicht waren auch andere Menschen aus seiner Vergangenheit aufgetaucht und quälten ihn, aber mehr noch dürften ihn Fragen von Leben und Tod beschäftigt haben, diese großen, beängstigenden Fragen, die einem im Kopf herumspuken, wenn man von nichts anderem abgelenkt wird. Warum bin ich hier? Wohin gehe ich? Was wird aus mir, wenn ich den letzten Schnaufer getan habe? Das sind gewichtige Themen, ich weiß, aber nachdem ich mehr als ein halbes Jahrhundert über das Verhalten des Meisters auf dieser Reise nachgedacht habe, glaube ich zu wissen, wovon ich rede. An ein Gespräch erinnere ich mich besonders gut, und wenn ich seine Worte nicht falsch gedeutet habe, zeigt sich hier deutlich, mit was für Problemen er sich damals herumgeschlagen hat. Wir waren irgendwo in Texas, ein Stück hinter Fort Worth, glaube ich, und ich quatschte ihm mal wieder, nur um mich reden zu hören, auf meine flatterhafte, prahlerische Art die Ohren voll.
«Kalifornien», sagte ich. «Da schneit es nie, und man kann das ganze Jahr im Meer schwimmen. Nach dem, was die Leute sagen, ist es das reinste Paradies. Dagegen ist Florida bloß ein modriger Sumpf.»
«Kein Ort ist vollkommen, Kleiner», sagte der Meister. «Denk an die Erdbeben und Erdrutsche, denk an die Trockenheit. Manchmal fällt dort jahrelang kein Regen, und wenn das geschieht, wird der ganze Staat zum Pulverfass. Da brennt dir dein Haus überm Kopf ab, ehe du piep sagen kannst.»
«Keine Sorge. In sechs Monaten leben wir in einer Burg aus Stein. Und das Zeug brennt nicht – aber um ganz sicherzugehen, legen wir uns eine eigene Feuerwehr zu. Ich sage Ihnen, Boss, das Kino und ich, wir sind füreinander geschaffen. Ich werde so viel Kohle scheffeln, dass wir eine Bank aufmachen müssen. Rawley & Co., Zentrale auf dem Sunset Boulevard. Warten Sie’s nur ab. Ich werde im Handumdrehen ein Star.»
«Wenn alles gutgeht, verdienst du genug zum Leben. Das ist das Entscheidende. Ich werde nicht ewig unter den Lebenden weilen, und mir liegt daran, dass du für dich selbst sorgen kannst. Wie du das machst, spielt keine Rolle. Schauspieler, Kameramann, Botenjunge – ein Beruf ist so gut wie der andere. Ich muss nur wissen, dass deine Zukunft gesichert ist, wenn ich einmal nicht mehr bin.»
«So reden alte Männer, Meister. Sie sind noch nicht mal fünfzig.»
«Sechsundvierzig. Wo ich herkomme, nennt man so was einen alten Knacker.»
«Quatsch mit Soße. In der Sonne von Kalifornien bekommen Sie am ersten Tag zehn Jahre zusätzlich geschenkt.»
«Schon möglich. Aber auch dann habe ich bereits mehr Jahre hinter mir als vor mir. Das ist eine ganz einfache Rechnung, Walt, und es kann nichts schaden, sich auf die Zukunft vorzubereiten.»
Danach sprachen wir von was anderem, vielleicht verstummten wir auch ganz, aber in den nächsten Tagen schienen mir seine dunklen Andeutungen immer bedrohlicher zu werden. Bei dem Meister, einem Mann, der sich immer solche Mühe gab, seine Gefühle zu verbergen, kamen diese Worte einem Geständnis gleich. So offenherzig hatte ich ihn noch nie erlebt, und obwohl er sich einer Sprache bediente, die aus
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