Mr. Vertigo
lauter Was wenn und Was dann bestand, war ich nicht so dumm, die zwischen den Zeilen versteckte Botschaft zu überhören. Ich musste wieder an seine Magenkrämpfe in dem Hotel in New Haven denken. Wenn ich seither nicht so sehr mit meinen eigenen Schwierigkeiten beschäftigt gewesen wäre, hätte ich dem sicher mehr Beachtung geschenkt. Jetzt, wo ich nichts Besseres zu tun hatte, als aus dem Fenster zu starren und die Tage bis zu unserer Ankunft in Kalifornien zu zählen, nahm ich mir vor, auf jeden Mucks von ihm zu achten. Diesmal würde ich kein Feigling sein. Wenn ich ihn noch mal ertappte, wie er sich mit verzerrtem Gesicht den Magen hielt, würde ich nicht lockerlassen und ihn zwingen, Farbe zu bekennen – und ihn zum nächstbesten Doktor schleifen.
Er muss meine Besorgnis bemerkt haben, denn bald nach diesem Gespräch machte er Schluss mit den düsteren Prophezeiungen und begann ein anderes Lied zu pfeifen. Als wir aus Texas nach New Mexico kamen, schien er geradezu heiter zu werden, und sosehr ich auf irgendwelche Alarmzeichen achtete, ich sah und hörte nichts davon – nicht das Geringste. Nach und nach gelang es ihm, mir wieder Sand in die Augen zu streuen, und ohne das, was dann tausend Kilometer weiter passierte, hätte es Monate, vielleicht Jahre gedauert, bis ich ihm auf die Schliche gekommen wäre. So stark war der Meister. Im geistigen Wettstreit konnte es keiner mit ihm aufnehmen, und jedes Mal, wenn ich es versuchte, kam ich mir am Ende vor wie ein Blödhammel. Er war so viel schneller als ich, so viel geschickter und erfahrener, dass er mir schon die Hose auszog, bevor ich sie überhaupt anhatte. Von einem Wettstreit konnte nie die Rede sein. Meister Yehudi gewann immer, und er gewann bis zum bitteren Ende.
Dann kam der langweiligste Teil der Reise. Tagelang fuhren wir durch New Mexico und Arizona, und nach einer Weile hatte ich das Gefühl, wir seien die letzten Menschen auf der Welt. Der Meister aber hatte die Wüste gern; ständig wies er mich in dieser kahlen Landschaft aus Felsen und Kakteen auf seltsame geologische Formationen hin und hielt mir kleine Vorträge über das unermessliche Alter der Erde. Um ganz ehrlich zu sein, mich ließ das ziemlich kalt. Ich wollte dem Meister nicht den Spaß verderben, drum hielt ich den Mund und heuchelte Interesse, aber nach viertausend Spitzkuppen und sechshundert Canyons hatte ich für den Rest meines Lebens genug von solchen Sehenswürdigkeiten.
«Wenn das Gottes Land ist», sagte ich schließlich, «kann er es behalten.»
«Lass dich nicht davon unterkriegen», sagte der Meister. «Das geht hier draußen endlos so weiter, und die Reise wird nicht kürzer, wenn du die Meilen zählst. Wenn du nach Kalifornien willst, müssen wir diese Straße hinter uns bringen.»
«Ich weiß. Aber dass ich mich damit abfinde, heißt noch lange nicht, dass es mir gefällt.»
«Du könntest es wenigstens versuchen. Dann vergeht die Zeit schneller.»
«Ich will ja nicht stänkern, Meister, aber dieses ganze Gerede von Schönheit ist doch alles Mumpitz. Ich meine, wen kümmert es schon, ob eine Gegend bescheuert aussieht oder nicht? Solange irgendwelche Leute da leben, ist es bestimmt interessant. Aber wenn man die Leute wegnimmt, was bleibt dann noch? Leere, sonst nichts. Und Leere bewirkt bei mir nur, dass mein Blutdruck sinkt und dass mir die Augen zufallen.»
«Dann mach die Augen zu und schlaf ein wenig, und ich führe mein Zwiegespräch mit der Natur alleine. Keine Sorge, kleiner Mann. Es dauert nicht mehr lange. Ehe du dich versiehst, wirst du so viel Leute sehen, wie du willst.»
Am 16. November dämmerte in Arizona der dunkelste Tag meines Lebens herauf. Es war ein knochentrockener Morgen wie all die anderen, als wir um zehn Uhr die Grenze nach Kalifornien überquerten und die Fahrt durch die Mojave-Wüste zur Küste in Angriff nahmen. Ich stieß an diesem Meilenstein einen leisen Freudenschrei aus und richtete mich auf die letzte Etappe unserer Reise ein. Der Meister fuhr anständig schnell, und wir nahmen an, wir würden rechtzeitig zum Abendessen in Los Angeles eintreffen. Ich weiß noch, wie ich meinte, wir sollten an unserem ersten Abend in der Stadt in ein schickes Restaurant gehen. Vielleicht würden wir Buster Keaton oder Harold Lloyd treffen, sagte ich, ob das nicht eine tolle Sache wäre? Man stelle sich vor, diesen Leuten bei einer Riesenportion flambiertem Eis in irgendeinem piekfeinen Speiselokal die Hand zu schütteln. Wenn sie Lust dazu
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