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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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für eine Führungsfigur halten konnte. Roger war alles andere als dick; dass die Uniform an ihm so sehr spannte, gab dem Major das unschöne Gefühl, dass sein Vater schmächtiger und fragiler gewesen sein musste, als er ihn in Erinnerung hatte.
    »Roger sieht unglaublich gut aus in Uniform«, sagte Grace. »Sie sind bestimmt sehr stolz auf ihn.« Rogers Blick fiel auf Grace, und sie winkte ihm zu. Mit einem Lächeln, das eher Widerwillen als Freude ausdrückte, ging er quer über die Tanzfläche auf den Tisch zu. Während er sich näherte, versuchte der Major krampfhaft, Stolz zu empfinden. Stattdessen spürte er aber vor allem Scham darüber, dass Roger eine Uniform trug, die ihm nicht zustand. Hartnäckig hatte sich sein Sohn geweigert, zum Militär zu gehen – der Major erinnerte sich gut an die Diskussion, die sie einmal an einem stürmischen Osterwochenende miteinander geführt hatten. Roger war gerade mit einer Kiste voller Wirtschaftslehrbücher und dem Traum, Banker zu werden, vom College nach Hause gekommen und hatte seinem diskret anfragenden Vater eine geharnischte Abfuhr erteilt.
    »Die Armee ist etwas für Bürokraten und Idioten. Da machst du im Schneckentempo Karriere und schaffst nie den Durchbruch.«
    »Es geht doch darum, dem eigenen Land zu dienen«, hatte der Major erwidert.
    »Es führt mit hundertprozentiger Sicherheit dazu, dass man in derselben Lage stecken bleibt wie der eigene Vater.« Roger war blass geworden, aber aus seinem Blick sprach weder Scham noch Bedauern. Der Schmerz, den die Worte dem Major zufügten, hatte sich blitzartig in seinem Inneren ausgebreitet; ihm war zumute gewesen, als hätte ihm jemand einen Totschläger in einer Wollsocke über den Schädel gezogen.
    »Ihr Großvater war also Colonel?«, fragte Mrs. Khan, als Roger vorgestellt wurde. »Wie schön, dass Sie dieser Familientradition gefolgt sind!«
    »Traditionen sind ja so wichtig«, erklärte der Arzt und schüttelte Rogers Hand.
    »Um ehrlich zu sein – Roger arbeitet in London«, sagte der Major. »Er ist Banker.«
    »Obwohl wir uns oft wie im Schützengraben fühlen«, fügte Roger hinzu. »Tag für Tag tragen wir im Kampf um die Märkte unsere Narben davon.«
    »Das Bankwesen ist ja heutzutage unglaublich wichtig.« Mrs. Khan nahm die Kurve mit der Selbstsicherheit einer Politikerin. »Da können Sie bestimmt viele wertvolle Beziehungen knüpfen.« Alle sahen zu, wie sich auf dem kleinen Podium in der Mitte des Raums Lord Dagenhams Tischgesellschaft formierte.
    Der Major nahm Roger zur Seite. »Ich habe Marjorie gesehen. Hast du sie eingeladen?«
    »Um Gottes willen, ich doch nicht! Sie hat mir erzählt, dass Ferguson ihr einen sehr netten Brief geschrieben und sie eingeladen hat.«
    »Aber aus welchem Grund sollte er das tun?«
    »Wahrscheinlich will er uns wegen der Gewehre unter Druck setzen. Bleib standhaft, Dad!«
    »Worauf du wetten kannst«, sagte der Major.
     
    Der weitere Abend war ein Paradebeispiel für nahezu grenzenloses Chaos. Mühsam bahnten sich die Kellner ihren Weg durch die Gänge, weil die Gäste partout nicht sitzen blieben. Das Parkett war voll, aber viele Leute taten nur so, als wollten sie tanzen gehen; in Wirklichkeit wanderten sie von Tisch zu Tisch, begrüßten Freunde und propagierten ihre eigene Wichtigkeit. Sogar die Khans wurden, nachdem sie sich auf einen Cha-Cha-Cha verabschiedet hatten, in der kleinen Gruppe gesehen, die sich um Lord Dagenham gebildet hatte. Das Gedränge war so schlimm, dass der Major beobachten konnte, wie Sandy, die zwischen Dagenham und Ferguson saß, einem Kellner signalisierte, er solle ihr das Essen lieber quer über den Tisch reichen und gar nicht erst versuchen, es stilvoll zu servieren. Während des Hauptgangs wurde ersichtlich, dass die Kellner viel zu sehr damit beschäftigt waren, Wein einzuschenken, als dass sie sich um den Früchtepunsch für Mrs. Ali kümmern konnten.
    »Ich springe kurz zur Bar. Kommen Sie zurecht?«, fragte der Major.
    »Aber natürlich«, sagte Mrs. Ali. »Grace und ich hecheln in der Zwischenzeit die viele nackte Haut durch, die hier präsentiert wird.«
    »Für mich bitte nichts«, sagte Grace. »Ich bleibe bei meinem einen Glas Wein.« Mit diesen Worten nahm sie ihre Abendtasche, entschuldigte sich hastig und eilte Richtung Toilette.
    »Vielleicht sollten wir ihr erzählen, dass ihr der Kellner jedes Mal, wenn sie nicht hinsieht, Chardonnay nachschenkt«, sagte der Major mit einem Lächeln.
     
    Auf dem mühsamen

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