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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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hatte. Er beschloss, Roger die Verwendung der Fotos zu verzeihen.
    »Gar nicht so schlecht, wie ich befürchtet hatte«, sagte er zu Mrs. Ali. Den verhaltenen, nervösen Stolz in seiner Stimme nahm er selbst wahr.
    »Sehr authentisch, finde ich«, warf Mrs. Jakes ein. »Ganz so, als wäre man in Indien.«
    »Ja, ich persönlich steige auch nie ohne Huhn in den Zug«, sagte Mrs. Ali, den Blick konzentriert auf die Tänzerinnen gerichtet.
    »Das Ende des Empires, Endstation …« Während Daisy Green mit schriller Stimme die Geschichte des jungen, arglosen Offiziers erzählte, der im selben Zug wie die schöne neue Braut des Maharadschas zu seiner Kaserne in Lahore zurückkehrte, tanzte Amina ein kurzes Solo. Ihre wallenden Schleier formten Bögen aus Licht und Bewegung.
    »Sie ist wirklich gut, oder?«, sagte Grace, als am Ende der Tanzeinlage kurzer Beifall aufbrauste. »Wie eine echte Ballerina.«
    »In Wirklichkeit haben natürlich nur die Kurtisanen getanzt«, wandte Sadie Khan ein. »Die Frau eines Maharadschas hätte sich niemals so gezeigt.«
    »Das Gleis ist blockiert! Das Gleis ist blockiert!«, kreischte Daisy. Während die Tänzerinnen mit den klingelnden Füßen stampften und ihre Körbe und Hühner noch heftiger herumwirbelten, las Roger weiter seine Zeitung, ohne etwas von dem Geschehen um ihn herum wahrzunehmen. Der Major wurde ungeduldig. Sein Vater, dachte er, hätte bestimmt viel schneller bemerkt, dass sich die Atmosphäre im Zug verändert hatte. Am liebsten hätte er gehustet, um Roger darauf aufmerksam zu machen.
    »Eine mordlustige Horde verbreitet Angst und Schrecken in dem unschuldigen Zug«, schrie Daisy, und aus sämtlichen Türen der Grill-Bar torkelten die hastig rekrutierten Freunde der Kellnerinnen, alle in Schwarz gekleidet und mit langen Stöcken wild um sich schlagend.
    »Ach, du liebe Güte«, sagte Grace. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihnen das Bier und die Sandwiches schon vor der Aufführung zu geben.«
    »Und ich hätte mir das mit den Knüppeln noch einmal gründlich überlegt«, witzelte der Major. Er sah zu Mrs. Ali hinüber, aber sie lächelte nicht über seine Bemerkung. Ihr ganz der Bühne zugewandtes Gesicht war starr wie Alabaster.
    Während die Dias in immer schnellerer Abfolge über die Leinwand flimmerten, führten die Männer mit übertriebenen, zeitlupenartigen Bewegungen mehrere Angriffe auf die sich windenden Frauen aus. Das gedämpfte Kreischen und Kichern der Tänzerinnen, das die wehklagende Musik nicht ganz zu übertönen vermochte, ärgerte den Major. Amina trat nun zu einem wilden Tanz mit zwei Angreifern an, die sich nach Kräften bemühten, sie jedes Mal, wenn sie ihre Arme ergriff, hochzuheben und von sich zu schleudern. Aus ihren Bewegungen sprach mehr Einsatzfreude als Schönheit, aber der Major fand, dass Amina das Ganze doch einigermaßen bedrohlich aussehen ließ. Zuletzt riss sie sich los, sprang davon und landete mit einer Drehung direkt auf Rogers Schoß. Roger hob den Blick von der Zeitung und mimte angemessene Verwunderung.
    »Die Frau des Maharadschas vertraut sich dem Schutz des britischen Offiziers an«, gellte Daisy. »Er ist zwar nur ein einzelner Mann, aber bei Gott – er ist ein Engländer!« Im Publikum ertönten Beifallrufe.
    »Meine Güte, ist das aufregend!«, sagte Mrs. Jakes. »Ich bekomme eine Gänsehaut.«
    »Möglicherweise eine allergische Reaktion«, sagte Mrs. Ali mit sanfter Stimme. »Hervorgerufen durch das Britische Empire.«
    »… verkleidet er die Maharani als seine Untergebene …«, fuhr Daisy fort.
    Der Major wollte nicht mäkeln, aber Rogers Darbietung konnte er nicht für gut befinden. Erstens hatte er eine Haltung eingenommen, die eher an James Bond als an einen britischen Militär erinnerte, und zweitens hatte er seinen Trenchcoat und sein Gewehr Amina zu halten gegeben und benutzte nun eine Pistole, was der Major als unverzeihlichen taktischen Fehler betrachtete.
    In die Musik und das Gekreisch mischten sich Schüsse. Die Scheinwerfer blinkten rot, die Leinwand wurde dunkel.
    »Als Hilfe kam, wachte der tapfere Colonel bis zum letzten Augenblick über die Fürstin«, rief Daisy. Das Licht fiel auf eine Masse lebloser Körper, männlicher wie weiblicher. Nur Roger stand noch aufrecht, die Pistole in der Hand, die bewusstlose Maharani im Arm. Obwohl ein, zwei Mädchen kicherten – woran wahrscheinlich die jungen Männer schuld waren, die auf ihren Beinen lagen –, spürte der Major, dass es

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