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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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umso stärker wurde sein Gefühl, dass alles nur noch oberflächlich und hohl war.
    Die Weihnachtsvorbereitungen in Edgecombe St. Mary verdrängten alles andere. Selbst die Kampagne gegen St. James Homes war abgeflaut. Die »Rettet unser Dorf«-Plakate, die unmittelbar nach der Jagd überall aufgetaucht waren, traten zwischen all den blinkenden Lichterketten, den grässlichen Gartendekorationen in Form von aufblasbaren Weihnachtsmännern und den Leucht-Rentieren mit ihren zum ewigen Grasen gesenkten Köpfen gar nicht mehr in Erscheinung. Selbst Alice Pierce hatte eines ihrer drei Plakate abgehängt und durch eine auf Holz gemalte Taube ersetzt, die ein Band mit der Aufschrift »Frieden auf Erden« im Schnabel trug. Nachts glimmte sie rosarot, beleuchtet von zwei nackten Energiesparlampen, die auf ein darunter befindliches Brett montiert waren und von einer Zeitschaltuhr in unerträglich kurzen Abständen an- und ausgeknipst wurden.
     
    Im Dorfladen, den der Major so lange wie möglich mied, trug die Weihnachtsdekoration dazu bei, jede Spur von Mrs. Ali auszulöschen. Ein ganzer Wald aus herabbaumelnden Figuren, Girlanden und großen Krepppapierkugeln, die für ein Bier warben, hatten den Laden in einen einzigen Weihnachtshorror verwandelt. Neben den abgepackten Fleischpasteten lagen keine von Mrs. Ali selbstgemachten Samosas mehr im Kühlfach. Die großen Dosen mit losem Tee hinter der Ladentheke waren einer Reihe von Pralinenmischungen gewichen. Durch ihre immense Größe garantierten die Schachteln jedem kleinen Kind das sofortige Empfinden eines Glücksgefühls, gefolgt von heftigen Bauchschmerzen. Die schlichten, von Hand gepackten Geschenkkörbe, mit denen sich der Major immer für die Feiertage eingedeckt hatte, waren durch große, billige Fertigware in grellen Farben und gelber Zellophanumhüllung ersetzt worden. In jedem steckte ein Bambusstab, an den sich ein Teddybär aus Plastik klammerte, dessen Pelz aus den Zellstofffasern von Vliestapeten zu bestehen schien. Der Major konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer an einem Bär am Stiel Gefallen finden sollte. Er stand da und betrachtete die armseligen Körbe durch seine Brillengläser, bis eine alte Frau mit harten Gesichtszügen, die strickend hinter der Theke saß, ihn fragte, ob er einen kaufen wolle.
    »Um Gottes willen, nein, vielen Dank«, sagte er. Die alte Frau sah ihn böse an. Offenbar konnte sie gleichzeitig stricken und böse schauen, denn ihre Nadeln hörten nicht auf, heftig zu klicken. Abdul Wahid kam aus dem hinteren Raum, begrüßte ihn ziemlich kühl und stellte ihm die Frau als seine Großtante vor.
    »Angenehm«, log der Major. Sie neigte zwar den Kopf, aber ihr Lächeln verwandelte sich beinahe umgehend in ein Schmollen, das ihr normaler Gesichtsausdruck zu sein schien.
    »Sie spricht nicht gut Englisch«, erklärte Abdul Wahid. »Wir haben sie erst vor kurzem überredet, Pakistan zu verlassen und hier ihren Ruhestand zu genießen.« Er zog eine Plastiktüte unter der Theke hervor. »Gut, dass Sie gekommen sind. Ich wurde gebeten, Ihnen etwas zurückzugeben.« Der Major warf einen Blick in die Tüte und sah das Büchlein mit Kipling-Gedichten, das er Mrs. Ali geschenkt hatte.
    »Wie geht es ihr?«, fragte er und hoffte, keinen dringlichen Ton in seine Stimme gelegt zu haben. Die Großtante begann, auf Abdul Wahid einzureden. Der nickte und lächelte entschuldigend.
    »Danke, wir haben uns alle gut arrangiert«, antwortete er. Seine Stimme mauerte eine noch höhere Trennwand aus Kälte und Gleichgültigkeit zwischen ihn und den Major, und dieser konnte keine Spur menschlicher Wärme entdecken, mit deren Hilfe er dem Gespräch eine Wendung hätte geben können. »Meine Tante wüsste gern, was wir Ihnen einpacken dürfen.«
    »Ach, ich brauche nichts, vielen Dank«, sagte der Major. »Ich bin nur vorbeigekommen, um – äh – um mir die Dekoration anzusehen.« Er deutete auf eine besonders große Papierkugel, auf der die flache Silhouette eines zwinkernden Mädchens mit dicken Lippen und einem Elfenhut thronte. Abdul Wahid errötete, und der Major fügte hinzu: »Wenn das Geschäft es erfordert, muss man sich dem Exzess natürlich beugen.«
    »Ich werde Ihre Gastfreundschaft im Herbst nicht vergessen«, sagte Abdul Wahid. Endlich schwang in seiner Stimme ein Hauch von Anerkennung mit, die aber mit einer unüberhörbaren Endgültigkeit verbunden war, so als hätte auch der Major vor, das Dorf für immer zu verlassen. »Es

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