Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Freund, sondern auch ein Berater für ihn gewesen war, von einer Eisscholle in der Arktis aus über eine schlechte Telefonleitung mit ihm sprechen.
»Ganz bestimmt nicht«, sagte der Pfarrer. »Seit die Diözese die verheerenden Auswirkungen negativer oder übermäßig strenger Predigten auf die Kollekte marktanalytisch untersuchen ließ, haben wir Anweisung, immer schön positiv zu bleiben.« Er tätschelte dem Major die Schulter. »Wir sehen dich hoffentlich nächsten Sonntag hier in der Kirche?«
»Wahrscheinlich schon«, antwortete der Major. »Obwohl – wenn wir schon dabei sind, ehrlich miteinander zu reden: Eine strenge Predigt wäre mir lieber, denn was ich üblicherweise von dir zu hören bekomme, ist zum Einschlafen.« Zu seiner Genugtuung errötete der Pfarrer, auch wenn er sein starres Lächeln beibehielt. »Ich fand, dass deine Offenheit die gleiche Ehrlichkeit von meiner Seite verdient hat«, fügte der Major hinzu.
Nachdem er die Kirche verlassen hatte, schlug der Major unwillkürlich den Weg zu der Straße ein, in der Grace wohnte. Er verspürte das dringende Bedürfnis, über das schlagartig in ihm entstandene Gefühl zu reden, dass ihm der Pfarrer für immer fremd geworden war, und hegte vorsichtig optimistisch die Hoffnung, Grace werde seine Empörung teilen. Außerdem war er sicher, dass es ihm gelingen würde, sie so lange zu piesacken, bis sie ihm erzählte, was die Leute wirklich tratschten. Vor der Haustür blieb er stehen und dachte an die Nacht des Balls zurück und daran, wie damals in den funkelnden Stunden der Vorfreude alles möglich erschienen war. Er klingelte, legte die Fingerspitzen an die Tür und schloss die Augen, als könnte er Jasmina in ihrem mitternachtsblauen Kleid heraufbeschwören, aber die Tür blieb hartnäckig real, und in der dahinterliegenden Diele ertönten die Schritte von Grace. Er war dankbar, sie kommen zu hören. Sie würde ihm Tee machen und ihm darin zustimmen, dass der Pfarrer Unsinn redete, und sie würde mit ihm über Jasmina sprechen und es bedauern, dass sie nicht mehr da war. Im Gegenzug, so beschloss er, würde er sie fragen, ob sie an Weihnachten zum Abendessen in Rogers Cottage mitkommen wolle. »Was für eine schöne Überraschung, Major«, sagte sie, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. »Es geht Ihnen hoffentlich wieder besser?«
»Ich habe das Gefühl, das ganze Dorf ist gegen mich«, platzte es aus ihm heraus. »Komplette Idioten alle miteinander!«
»Sie kommen wohl am besten erst mal rein und trinken eine Tasse Tee«, sagte Grace. Sie tat gar nicht erst so, als wüsste sie nicht, wovon er sprach, und bat ihn auch nicht, sie ausdrücklich von dem pauschalen Angriff auf seine Nachbarn auszunehmen. Als er in ihre enge Diele trat, war er sehr froh darüber, dass England noch immer vernünftige Frauen ihres Schlags hervorbrachte.
Der Major war mit Graces vollständiger Zustimmung zu dem Schluss gelangt, dass er sich lächerlich machen und man noch mehr über ihn reden würde, wenn er den Dorfladen mied, und schaute deshalb immer wieder einmal dort vorbei, obwohl ihn jeder dieser Besuche schmerzte, als würde er sich Schorf von einer Wunde kratzen, die noch nicht verheilt war. Amina, die in der Unterrichtszeit und abends arbeitete, hatte keine Zottelhaare mehr und trug jetzt weder knallige Farben noch schräge Schuhe. In Anwesenheit von Abdul Wahids alter Großtante gab sie sich kleinlaut und zurückhaltend.
»Wie geht es dem kleinen George?«, fragte er einmal, als sie beide allein waren. »Ich sehe ihn nie.«
»Gut.« Sie tippte die Preise der Tüte Kekse und der beiden Navelorangen ein, als hätte sie schon immer an der Kasse gesessen. »Am ersten Schultag waren zwei Jungs gemein zu ihm, und es gab das Gerücht, dass eine Familie ihre Kinder von der Schule nehmen würde. Aber dann hat die Direktorin gesagt, dass sie keine kostenlose Busfahrt zu der Schule kriegen würden, in die sie wollten, und das war’s dann.«
»Sie machen den Eindruck, als würden Sie das alles einfach hinnehmen.«
Wo war ihre gewohnte Kratzbürstigkeit geblieben? Sie sah ihm in die Augen, und einen Moment lang blitzte die alte Wut darin auf.
»Tja, wie man sich bettet, so liegt man«, sagte sie leise. »George wohnt jetzt hier und hat einen Vater, der mit seinem eigenen Unternehmen ganz ordentlich verdient.« Sie sah sich um, ob niemand sonst im Laden war. »Wenn ich mir dafür auf die Zunge beißen muss und den Kunden nicht den Kopf abreißen darf –
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