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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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heimkam, war sie nicht mehr da.«
    Aus dem Hörer drangen Schnieflaute, und der Major stellte verärgert fest, dass in seiner Brust Mitleid für seinen Sohn aufwallte.
    »Ich weiß. Nimm ein heißes Bad und ein paar Aspirin und zieh dir frische Kleider an. Ich komme und nehme die Sache in die Hand.«
     
    Er rief Grace an und teilte ihr mit, dass er den Vormittag über nicht zu Hause sein, sie mittags aber wie vereinbart abholen würde. Und dann erzählte er ihr in aller Kürze, was passiert war – hauptsächlich, um ihr Gelegenheit zu geben, ihr Kommen abzusagen, falls sie das wollte.
    »Ich habe keine Ahnung, wie das Essen verlaufen wird.«
    »Könnte ich nicht mitkommen und bei den Vorbereitungen helfen, oder wäre das Ihrem Sohn peinlich?«, fragte Grace.
    »Ach nein, jeglichen Grund zur Peinlichkeit hat er sich zu hundert Prozent selbst zuzuschreiben«, antwortete der Major, der sich, wenn er ehrlich war, nicht mehr erinnern konnte, wie man Bratensauce machte oder wann der Pudding ins Wasser musste. Apropos Pudding – er wusste ja nicht einmal, ob es überhaupt einen geben würde. Ein jäher Schreck durchzuckte ihn bei dem Gedanken, dass Roger und Sandy möglicherweise eine zu ihrem grässlichen Baum passende Bûche de Noël bestellt oder etwa geplant hatten, irgendetwas Eigenartiges aufzutischen, Mango beispielsweise. »Aber ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten«, fügte er hinzu.
    »Major, ich nehme die Herausforderung an!«, rief Grace. »Ich gestehe, dass ich schon seit einer ganzen Weile fertig bin und hier mit Tasche und Handschuhen untätig herumsitze. Bitte erlauben Sie mir, Ihnen in dieser Notlage zu helfen.«
    »Ich hole Sie gleich ab«, sagte der Major. »Und wir bringen besser unsere eigenen Schürzen mit.«
     
    Kann selbst die trostloseste Lebenslage durch die versöhnliche Wärme eines Feuers und den Duft eines im Ofen schmorenden Bratens für ein paar Stunden in Vergessenheit gebracht werden? Darüber dachte der Major nach, während er an einem Glas Champagner nippte und durch Rogers Küchenfenster auf den welken Garten hinaussah. Hinter ihm tanzte der Deckel auf dem großen Kochtopf, in dem der Pudding köchelte, und Grace passierte Bratensauce durch ein Sieb. Der Truthahn hatte sich nach seiner Befreiung aus der Hecke als Bio-Geflügel entpuppt – er war teuer und mager. Außerdem fehlte ihm ein Flügel. Aber gut gewaschen und gefüllt mit Graubrot und Maronen, nahm er auf seinem Gemüsebett allmählich einen zufriedenstellend karamellbraunen Ton an. Roger schlief noch immer. Der Major hatte kurz zu ihm hineingesehen und ihn mit verstrubbeltem Haar und weit offenem Mund auf dem Kissen liegen sehen.
    »Was für ein Glück, dass Sie einen überzähligen Pudding hatten.« Der Major hatte Rogers Küchenschränke durchsucht, aber nur gemischte Nüsse und eine große braune Tüte Cantuccini gefunden.
    »Bedanken Sie sich bei meiner Nichte, die mir jedes Jahr einen Fresskorb schickt, anstatt mich zu besuchen«, sagte Grace und erhob ebenfalls ihr Champagnerglas. Sie hatte eine große Tragetasche mit dem Inhalt des Fresskorbs mitgebracht und bereits Kräcker mit geräucherten Austern belegt, Cranberry-Sauce mit Orangenschale und Gewürzen in eine Schüssel aus Kristallglas gegeben und die Cornish Cream auf dem Fensterbrett in der Spülküche kalt gestellt. Für später gab es Türkischen Honig und Shortbread sowie eine halbe Flasche Portwein zur Verdauung. Der Major hatte sogar herausgefunden, wie Rogers Stereoanlage funktionierte, die keine sichtbaren Knöpfe besaß und mit derselben Fernbedienung gesteuert wurde wie der Kamin. Nach mehreren Fehlstarts – die beiden schlimmsten verbunden mit plötzlich ausbrechender dröhnender Rockmusik beziehungsweise einem aufschießenden Feuerwerk im Kieselkorb – hatte er sowohl ein gemütliches Feuer als auch ein ruhiges Weihnachtskonzert der Wiener Sängerknaben zustande gebracht.
    Seinen Sohn musste er nicht wecken: Das Telefon klingelte, und er hörte, dass Roger abnahm. Als er, um der Tischdekoration den letzten Schliff zu geben, Graces sorgsam arrangierte Stechpalmenzweige hin und her schob, erschien Roger ordentlich gekleidet in Hose und dunkelblauem Pullover und strich sich das Haar glatt.
    »Ich dachte schon vor einer Weile, ich hätte dich gehört«, sagte er und verzog beim Anblick des Tisches leicht das Gesicht. »Du hast doch nicht etwa das Essen gemacht?«
    »Grace und ich haben es zusammen gemacht«, antwortete der Major. »Bist du

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