Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Grace zuweilen eine durchaus scharfsinnige und angenehme Person. Sie kannte sich mit Rosen aus und wusste viel über Heimatkunde. Der Major erinnerte sich an ein Gespräch mit ihr in der Kirche, wo er sie eines Tages angetroffen hatte, als sie gerade konzentriert Heiratseinträge aus dem siebzehnten Jahrhundert las. Sie trug weiße Baumwollhandschuhe, um die Buchseiten vor ihren Fingern zu schützen, machte sich aber keine Gedanken über ihre eigenen Kleider, die mit weichem Staub bedeckt waren. »Sehen Sie nur«, flüsterte sie und hielt eine Lupe dicht über das uralte blassbraune Tintengekritzel irgendeines Pfarrers. »Hier steht: ›Am heutigen Tage wurde Mark Salisbury mit Daniela de Julien, ehemals La Rochelle, verehelicht.‹ Das ist die erste Erwähnung von Hugenotten, die sich im Dorf niederließen«, kommentierte sie den Eintrag. Etwa eine halbe Stunde lang war er bei ihr geblieben und hatte zugesehen, wie sie ehrfürchtig durch die Folgejahre blätterte und nach Hinweisen auf die weitverzweigten alteingesessenen Familien der Gegend suchte. Als er anbot, ihr ein Buch über die neuere Geschichte von Sussex zu leihen, das ihr möglicherweise helfen könnte, stellte sich heraus, dass sie nicht nur bereits ein Exemplar davon besaß, sondern auch einige andere, schwer verständliche, ganz wundervolle alte Texte, die er sich schließlich von ihr auslieh. Eine Zeitlang hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Freundschaft mit ihr zu intensivieren, doch kaum hatten Daisy und Alma von dem Gespräch erfahren, begannen sie, sich auch schon einzumischen. Es gab geheimnistuerische Bemerkungen auf der Straße, dieses und jenes getuschelte Wort an der Bar im Golfclub. Irgendwann hatten sie Grace dann stark geschminkt und in ein scheußliches Seidenkleid gezwängt zu einem Mittagessen mit ihm geschickt. Garniert und verschnürt wie ein festtäglicher Schweinebraten war sie gewesen. Außerdem hatten sie ihr offenbar Verhaltensregeln im Umgang mit Männern eingetrichtert, denn während sie ihren gedämpften Fisch mit grünem Salat (ohne Dressing) aß, machte sie völlig verkrampft Konversation mit ihm. Er kaute unterdessen auf seiner Rindfleisch-Nieren-Pastete herum wie auf Schuhleder und sah zu, wie die Zeiger der Pub-Uhr zögerlich das Zifferblatt umkrochen. Er erinnerte sich, Grace damals mit einem gemischten Gefühl von Erleichterung und Bedauern bis vor ihre Haustür gebracht zu haben.
Heute blieb es ihr überlassen, ihn mit einem geflüsterten Gespräch über das Wetter im Wohnzimmer festzuhalten, während Daisy und Alma unter Tassengeklirr und Tablettgeklapper aus der Küche auf ihn einbrüllten. Er ertappte Grace dabei, wie sie den Blick nach links und rechts durch den Raum schweifen ließ, und wusste sofort, dass die drei dabei waren, ihn und sein Haus nach Anzeichen von Verwahrlosung und Verfall abzusuchen. Ungehalten rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, bis endlich der Tee kam.
»Es gibt einfach nichts Besseres als eine gute Tasse Tee aus einer richtigen Porzellankanne, ist es nicht so?«, fragte Daisy, während sie ihm Tasse und Untertasse reichte. »Einen Keks?«
»Danke schön.« Sie hatten ihm eine große Blechdose mit einer »Luxus«-Keksmischung mitgebracht. Die Dose war mit Darstellungen von reetgedeckten englischen Cottages bedruckt, und entsprechend üppig waren die Kekse darin – mit Buttertoffee gefüllt, mit pastellfarbenem Zuckerguss besprenkelt oder in verschiedenfarbige Folien verpackt. Seiner Vermutung nach hatte Alma sie ausgesucht. Im Gegensatz zu ihrem Mann Alec, der mit Stolz auf seine Kinderjahre im East End zurückblickte, tat Alma alles, um ihre Londoner Wurzeln zu vergessen, verriet sich jedoch manchmal durch ihre Vorliebe für protzige Luxusartikel und den Hang zu Süßigkeiten, wie er typisch war für Menschen, die in ihrer Kindheit nicht genug zu essen gehabt hatten. Die anderen beiden Damen, mutmaßte er, bemühten sich zu verbergen, wie peinlich berührt sie waren. Er griff nach einem schlichten Butterkeks und biss hinein. Die Damen nahmen Platz und lächelten ihn so mitleidig an, als sähen sie einer ausgehungerten Katze dabei zu, wie sie Milch von einem Tellerchen leckte. Weil es nicht einfach war, unter den prüfenden Blicken zu kauen, nahm er einen großen Schluck Tee zu Hilfe, um den trockenen Keks hinunterzuspülen. Der Tee war schwach und schmeckte nach Papier. Dass sie auch noch ihre eigenen Teebeutel mitgebracht hatten, machte ihn sprachlos.
»War Ihr Bruder älter
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