Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Grußkartenständer und Zeitungen. Auf Mrs. Alis exotische Herkunft deuteten nur die Dosen mit dem losen Tee und eine Schüssel mit selbstgemachten Samosas hin. Im hinteren Teil des Ladens, einem kleinen, hässlichen Anbau, lagen die Großpackungen – Hundetrockenfutter, Blumenerde, Hühnerpellets und in Folie verpackte Paletten mit gebackenen Bohnen der Marke Heinz. Der Major konnte sich nicht vorstellen, wer hier solche Mengen erwarb. Ihre Großeinkäufe tätigten die Leute im Supermarkt in Hazelbourne-on-Sea, oder sie fuhren zum neuen Großmarkt und zum Outlet Center in Kent. Außerdem kam man auf einer billigen Fähre schnell nach Frankreich hinüber, und nicht selten sah er seine Nachbarn riesige Waschpulverkartons und merkwürdig geformte Flaschen mit billigem ausländischem Bier aus dem Verbrauchermarkt in Calais wankend nach Hause tragen. Die meisten Leute betraten den Dorfladen nur, wenn ihnen etwas ausgegangen war, vor allem spätabends. Dem Major fiel auf, dass sie sich nie bei Mrs. Ali dafür bedankten, dass sie unter der Woche abends bis acht und auch am Sonntagvormittag geöffnet hatte. Dafür nörgelten sie gern wegen der angeblich so hohen Preise und spekulierten, wie viel Mrs. Ali wohl als Inhaberin einer lizenzierten Lottoannahmestelle verdienen mochte.
Da er Mrs. Ali in dem leeren Laden weder hörte noch ihre Anwesenheit spürte, schlenderte der Major, anstatt jeden Gang einzeln abzusuchen, so beiläufig wie möglich nach hinten zu den Großpackungen, ohne die Teedosen neben der Theke und der Registrierkasse eines Blickes zu würdigen. Hinter diesem Bereich verbarg sich das kleine, durch einen Vorhang aus steif herabhängenden Vinyllamellen abgetrennte Büro.
Erst, als er sämtliche Preise der Großgebinde überflogen und sich zu den Schinken-Eier-Pasteten im Kühlregal an der hinteren Wand vorgearbeitet hatte, erschien Mrs. Ali zwischen den Plastiklamellen. Sie hielt einen Stapel Mini-Apple-Pies im Arm, deren Verpackung mit Halloween-Motiven verziert war.
»Major Pettigrew«, sagte sie erstaunt.
»Mrs. Ali.« Die Erkenntnis, dass sich das amerikanische Halloween-Getue nun auch auf britische Backwaren auswirkte, brachte ihn fast von seinem eigentlichen Vorhaben ab.
»Wie geht es Ihnen?« Sie sah sich nach einer Abstellfläche für die Schachteln um.
»Gut, gut«, antwortete er. »Ich wollte mich für den Gefallen bedanken, den Sie mir neulich erwiesen haben.«
»Ach nein, das ist doch nicht der Rede wert.« Sie wollte offenbar eine wegwerfende Handbewegung machen, brachte aber, von den Schachteln behindert, nur ein leichtes Wedeln mit den Fingerspitzen zustande.
»Und außerdem wollte ich mich entschuldigen …«
»Aber ich bitte Sie!«, sagte Mrs. Ali und blickte mit angespannter Miene an ihm vorbei. Der Major spürte die Anwesenheit des Neffen zwischen seinen Schulterblättern und drehte sich um. In dem schmalen Gang wirkte der junge Mann massiger als zuvor; sein Gesicht lag im Schatten des hellen Sonnenlichts, das durch das Schaufenster in den Laden schien.
Der Major trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen, aber nun blieb der Neffe seinerseits stehen und machte den Weg frei. Eine unsichtbare Kraft drängte den Major, an ihm vorbeizugehen und den Laden zu verlassen. Doch sein Körper beharrte trotzig auf dem Wunsch dazubleiben und nagelte ihn am Boden fest.
Er spürte, dass es Mrs. Ali nicht recht sein würde, wenn er im Beisein ihres Neffen weitere Entschuldigungen vorbrächte.
»Wie gesagt, ich wollte Ihnen beiden für die freundliche Kondolenz danken«, sagte er und freute sich insbesondere über das Wort »beiden«, das sich sanft wie ein perfekt geschlagener Golfball in seinen Satz eingefügt hatte. Der Neffe sah sich zu einem wohlgefälligen Nicken gezwungen.
»Was immer wir für Sie tun können – Sie müssen es nur sagen, Major«, warf Mrs. Ali ein. »Für den Anfang vielleicht etwas frischen Tee?«
»Ja, ich habe nicht mehr viel im Haus«, sagte der Major.
»Sehr gern.« Sie reckte das Kinn und sprach zu ihrem Neffen. Dabei starrte sie auf einen Punkt irgendwo über dem Kopf des Majors. »Abdul Wahid, würdest du bitte die restlichen Halloween-Artikel holen, während ich mich um die Teebestellung des Majors kümmere?« Sie ging mit den Schachteln im Arm an den beiden Männern vorbei. Der Major folgte ihr und zwängte sich mit entschuldigendem Lächeln zwischen dem Regal und dem Neffen durch. Der zog ein finsteres Gesicht und verschwand hinter dem Vinyl-Vorhang.
Mrs.
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