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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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als Sie?«, fragte Grace und beugte sich mit großen, mitfühlenden Augen zu ihm hinüber.
    »Nein, zwei Jahre jünger.«
    Es entstand eine Pause.
    »Dann war er wohl schon länger krank?«, fragte Grace hoffnungsvoll.
    »Nein, es kam leider ganz plötzlich.«
    »Das tut mir sehr, sehr leid.« Sie fingerte an der großen grünen Edelsteinbrosche herum, die in der Mitte ihres hochgeknöpften Blusenkragens steckte, und senkte den Blick zum Teppich, als suchte sie im geometrischen Muster des ausgebleichten Bokharas einen neuen Gesprächsfaden. Die beiden anderen machten sich an ihren Teetassen zu schaffen. Der Wunsch nach einem Themenwechsel lag geradezu greifbar in der Luft. Doch Grace steckte irgendwie fest.
    »War seine Familie am Ende bei ihm?«, fragte sie und sah ihn verzweifelt an. Am liebsten hätte er nein gesagt, Bertie sei allein in einem leeren Haus gestorben und erst Wochen später von der Putzfrau der Nachbarn gefunden worden. Es hätte ihm Spaß gemacht, das fade Gespräch mit dem Nagel vorsätzlicher Grausamkeit zu durchbohren. Gleichzeitig registrierte er, dass die anderen beiden zusahen, wie Grace sich abmühte, ohne ihr zu Hilfe zu kommen.
    »Seine Frau war dabei, als er ins Krankenhaus kam, und soweit ich weiß, konnte ihn seine Tochter dann noch kurz sehen.«
    »Wie schön«, sagte Grace.
    »Wie schön«, plapperte Daisy nach und lächelte ihn an, als wäre jede weitere Verpflichtung zum Traurigsein damit weggewischt.
    »Es ist bestimmt ein großer Trost für Sie zu wissen, dass er im Kreise seiner Familie verstarb«, fügte Alma hinzu und biss herzhaft in einen gewaltigen dunklen Schokoladenkeks. Ein leichtes synthetisches Bitterorangenaroma drang dem Major in die Nase. Er hätte gern erwidert, dass es sich nicht so verhielt, dass ihn ein bohrender Schmerz quälte, weil alle erst daran gedacht hatten, ihn anzurufen, als es schon vorbei war, und dass er sich so gern von seinem jüngeren Bruder verabschiedet hätte. Am liebsten hätte er es ihnen entgegengespuckt, aber seine Zunge fühlte sich dick und dazu völlig untauglich an.
    »Und er war, nicht zu vergessen, umfangen vom Trost des Herrn«, sagte Daisy seltsam hastig, als spräche sie etwas irgendwie Ungehöriges an.
    »Amen«, flüsterte Alma und suchte sich einen Doppelkeks aus.
    »Ach, schert euch zum Teufel!«, flüsterte der Major in den fast durchsichtig erscheinenden Boden seiner Tasse hinein und kaschierte das Gemurmel mit einem Hüsteln.
     
    »Vielen Dank für Ihren Besuch«, sagte er und winkte ihnen von der Tür aus zu. Ihr Abgang stimmte ihn etwas milder.
    »Wir besuchen Sie bald wieder«, versprach Daisy.
    »Wie schön, dass die Vièrge de Cléry noch blüht«, fügte Grace hinzu und berührte, während sie hinter den anderen durch das Gartentor trat, mit den Fingerspitzen die nickende Blüte einer Provence-Rose. Hätte sie doch nur schon früher über Rosen gesprochen, dachte der Major. Dann wäre der Nachmittag vielleicht angenehmer verlaufen. Doch dann brachte er sich in Erinnerung zurück, dass es nicht die Schuld der drei Damen gewesen war. Die hielten sich nur an die allgemein anerkannten Gepflogenheiten und sagten, was sie zu sagen wussten an einem Punkt im Leben, an dem selbst das schönste Gedicht keinen Trost zu spenden vermochte. Wahrscheinlich machten sie sich ganz ehrlich Sorgen um ihn. Vielleicht hatte er doch zu mürrisch reagiert.
    Zu seinem Erstaunen war sein Kummer jetzt tiefer als in den Tagen zuvor. Er hatte vergessen, dass Trauer nicht linear abnimmt oder in einer langgestreckten Kurve ähnlich den grafischen Darstellungen im Mathematikbuch eines Kindes. Stattdessen kam es ihm fast so vor, als läge in seinem Körper ein großer Haufen Gartenabfälle mit dicken Erdklumpen und scharfem, dornigem Gestrüpp, das ihn genau dann stechen würde, wenn er es am wenigsten erwartete. Wäre Mrs. Ali vorbeigekommen – und wieder empfand er leichten Groll darüber, dass sie es nicht getan hatte –, sie hätte ihn verstanden. Mrs. Ali, da war er sich ganz sicher, hätte ihn von Bertie erzählen lassen. Nicht von der Leiche, die sich bereits in der Erde zu verflüssigen begann, sondern von Bertie, wie er gewesen war.
    Der Major trat in den leeren Garten hinaus, um die Sonne auf dem Gesicht zu spüren. Er schloss die Augen und atmete ganz langsam, um den Stoß abzudämpfen, den ihm das innere Bild von Bertie versetzte, Bertie in der Erde, kalte, grünliche Haut, die sich nach und nach in etwas Geleeartiges verwandelte. Er

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