Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Ali legte die Schachteln ab, suchte hinter der Theke nach dem Spiralbuch für die Bestellungen und begann, es durchzublättern.
»Gnädige Frau«, sagte der Major, »der mir von Ihnen erwiesene Gefallen …«
»Das möchte ich lieber nicht vor meinem Neffen besprechen«, flüsterte sie, und einige Sekunden lang trübte ein missmutiger Zug die Glätte ihres ovalen Gesichts.
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte der Major.
»Mein Neffe ist erst vor kurzem nach seinem Studium in Pakistan hierher zurückgekehrt und hat sich an viele Dinge noch nicht wieder gewöhnt.« Sie warf einen prüfenden Blick auf den Vorhang, um sicherzugehen, dass sich der Neffe außer Hörweite befand. »Er macht sich Sorgen um das Wohlergehen seiner Tante, wissen Sie. Er mag es nicht, wenn ich Auto fahre.«
»Oh.« Langsam dämmerte es dem Major, dass sich die Sorgen des Neffen auch auf fremde Männer wie ihn beziehen könnten, und er zog enttäuscht die Mundwinkel nach unten.
»Ich halte mich natürlich nicht daran«, erklärte sie, und diesmal lächelte sie und hob die Hand ans Haar, als wollte sie prüfen, ob der straff geknotete tiefe Dutt noch saß. »Aber ich versuche, ihn nach und nach umzuerziehen. Junge Leute können ja so stur sein.«
»Durchaus. Ich verstehe.«
»Wenn ich also irgendetwas für Sie tun kann, Major, dann müssen Sie es nur sagen.« Mrs. Alis Augen waren so warm und braun, und der besorgte Gesichtsausdruck wirkte so ehrlich, dass der Major, nachdem er sich kurz umgesehen hatte, alle Vorsicht in den Wind schlug.
»Nun ja«, sagte er stotternd, »ich wollte fragen, ob Sie diese Woche irgendwann mal in die Stadt fahren. Ich fühle mich einfach noch nicht gut genug, um mich selbst ans Steuer zu setzen, und ich müsste beim Anwalt unserer Familie vorbeischauen.«
»Normalerweise fahre ich immer donnerstagnachmittags, aber vielleicht kann ich …«
»Donnerstag passt perfekt«, sagte der Major hastig.
»Ich würde Sie dann so gegen vierzehn Uhr abholen, ja?«
Der Major senkte die Stimme und kam sich dabei überaus taktvoll vor. »Vielleicht wäre es am günstigsten, wenn ich an der Bushaltestelle an der Hauptstraße warte – dann müssen Sie nicht erst zu mir hinauffahren.«
»Ja, das wäre am besten«, sagte Mrs. Ali lächelnd, und der Major hatte das Gefühl, jeden Augenblick in ein idiotisches Grinsen auszubrechen.
»Dann also bis Donnerstag«, sagte er. »Und vielen Dank.« Als er den Laden verließ, fiel ihm ein, dass er gar keinen Tee gekauft hatte. Aber das machte nichts, da er noch über große Vorräte für sich selbst verfügte und bislang nur von Leuten Besuch erhielt, die ihren eigenen Tee mitbrachten. Auf dem Weg zurück zur Dorfwiese war sein Schritt beschwingter und sein Herz ein wenig leichter.
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Viertes Kapitel
A m Donnerstagmorgen wurde der Major von prasselndem Regen geweckt, der wie mit Fäusten in die Dachtraufen schlug und in einem quälend unregelmäßigen, misstönenden Rhythmus auf die Schwachstelle in der Fensterbank tröpfelte, dorthin, wo das Holz bereits aufweichte. Das Schlafzimmer lag in blauem Dämmerlicht, und der Major in seinem stickigen Bettdeckenkokon sah förmlich vor sich, wie die Wolken an die Flanke der Kreidehöhen prallten und ihre schwere Wasserlast abwarfen. Das Zimmer mit den schweren Balken schien die Nässe geradezu einzusaugen. Die blaugestreifte Tapete wirkte gelb in dem sonderbaren regnerischen Licht und so, als würde sie sich unter dem Gewicht der dampfigen Luft jeden Augenblick vom dicken Wandputz schälen. Tief in sein klumpiges Entendaunenkissen versunken, lag er da und sah benommen zu, wie alle in diesen Tag gesetzten Hoffnungen an den alten, dünnen Scheiben des Fensters hinabgeschwemmt wurden.
Er verfluchte sich, weil er mit sonnigem Wetter gerechnet hatte. Vielleicht, dachte er, war es der Evolution geschuldet – irgendeinem anpassungsfähigen Gen, mit dessen Hilfe es den Engländern gelang, auch angesichts von so gut wie sicher eintretendem Regen unbeschwert Aktivitäten an der frischen Luft zu planen. Er dachte an Berties fast vierzig Jahre zurückliegende Hochzeit: ein Mittagessen unter freiem Himmel vor einem kleinen Hotel, dessen bahnhofshallenähnlicher Speisesaal nicht genug Platz für die fünfzig Gäste bot, die Zuflucht vor dem plötzlich aufgezogenen Gewitter suchten. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Marjorie damals geweint, während eine absurde Masse klatschnassen Tülls ihren knochigen Körper umwickelte wie schmelzendes
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