Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Glücklichen – eben zusammenhalten«, schlug der Major vor. Mrs. Ali lachte. Der Major wandte den Kopf zum Fenster und betrachtete die nebelumhüllten Hecken am Straßenrand. Er merkte, dass ihm nicht mehr kalt war. Die Hecken wirkten weder düster, noch troffen sie vor Nässe, sondern waren bis zum letzten Blatt mit diamanten glitzernden Tropfen gesäumt. Die Erde dampfte. Unter einem Baum schüttelte ein Pferd seine Mähne wie ein Hund, beugte den Hals und begann, am frisch benetzten Löwenzahn zu knabbern. Das Auto verließ die heckengesäumte Straße und erklomm auf der nun breiter werdenden Fahrbahn die letzte Hügelkuppe. Die Stadt war in das zerklüftete Tal gebettet, das sich zur Küstenebene öffnete. Hinter der scharfen Trennlinie der Strandkante lag grau und endlos das Meer. Am Himmel ließ ein Riss im Nebel fahle Sonnenstrahlen durch, die auf dem Wasser gleißten. Es war so schön und so absurd wie ein illustriertes viktorianisches Gesangbuch – nur die Rosengirlanden und ein herabschwebender Erzengel mit Putti im Gefolge fehlten. Bergab nahm das kleine Auto Fahrt auf, und irgendwie hatte der Major das Gefühl, dass der Nachmittag jetzt schon ein Erfolg war.
»Wo soll ich Sie absetzen?«, fragte Mrs. Ali, während sie sich in den träge Richtung Innenstadt fließenden Verkehr einreihten.
»Ach, irgendwo an einer günstigen Stelle«, antwortete der Major und wurde sofort nervös. Denn in Wahrheit war es überaus wichtig, wo sie ihn absetzte – oder vielmehr, wo sie sich hinterher treffen würden und ob er sie dann zum Tee einladen könnte. Aber er hielt es für unhöflich, allzu konkret zu werden.
»Normalerweise gehe ich in die Bibliothek und mache dann in der Myrtle Street meine Erledigungen«, sagte sie. Der Major wusste nicht genau, wo die Myrtle Street lag. Wohl eher oben auf dem Hügel, dachte er, im ärmeren Teil der Stadt, wahrscheinlich gleich hinter dem beliebten Imbissstand Vinda Linda’s Curry House neben dem Krankenhaus. »Aber ich kann Sie überall rauslassen – wir sollten uns nur auf etwas einigen, bevor ich die ganze Runde noch mal drehen muss.«
»Ach ja, das berüchtigte Einbahnstraßensystem«, sagte der Major. »Meine Frau und ich kamen mal aus dem in Exeter nicht mehr raus. Sie war vom Pferd gefallen und hatte sich einen Finger gebrochen. Wir sind stundenlang im Kreis gefahren und hatten das Krankenhaus immer im Blick, konnten aber von unserer Fahrtrichtung aus keine Zufahrt finden. Wir kamen uns vor wie eine Kugel im Labyrinth eines Geduldsspiels.« Später hatten Nancy und er darüber gelacht und sich vorgestellt, Dante würde das Fegefeuer neu gestalten – als Einbahnstraßensystem, das, über zwei Sperrmauern aus Beton hinweg, gelegentlich einen Blick auf Petrus und die Himmelspforte erlaubte. Während er sprach, merkte er mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, dass es ihm schon recht leichtfiel, mit Mrs. Ali über seine Frau zu reden – dass der gemeinsame Verlust zu einem nützlichen Anknüpfungspunkt geworden war.
»Was halten Sie vom Einkaufszentrum?«, fragte Mrs. Ali.
»Was halten Sie vom Meer? Wäre das ein Umweg für Sie?« Er wusste natürlich, dass es ein Umweg war. Zu Fuß erreichte man das Meeresufer mit wenigen Schritten, aber das Verkehrssystem lotste die Autos erst einmal nach links und dann auf einer langen Ringstraße durch die Altstadt zum Strand. Um ihre Erledigungen zu machen, musste Mrs. Ali ein gutes Stück landeinwärts und bergauf. Heutzutage spielte sich jedermanns Leben landeinwärts und bergauf ab, so als hätte die ganze Stadt dem Meer den Rücken gekehrt.
»Gut, dann am Meer.« Schon bald darauf steuerte sie den Wagen auf den kleinen kostenpflichtigen Parkplatz direkt hinter dem Strand und sagte bei laufendem Motor: »Ich hole Sie in eineinhalb Stunden hier ab, ja?«
»Ausgezeichnet.« Er reichte ihr die Bücher und langte nach dem Türgriff. Alle möglichen Varianten der Frage, ob sie mit ihm Tee trinken wolle, schwirrten durch seinen Kopf, aber er schaffte es nicht, eine davon tatsächlich auszusprechen. Während sie winkend davonfuhr, schimpfte er sich einen Idioten.
Die Anwaltskanzlei Tewkesbury and Teale hatte ihren Sitz in einer zitronengelben Villa aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, die an einem kleinen Platz zwei Straßen hinter dem Meer lag. In der Mitte des Platzes befand sich, selbstverliebt hinter einem hohen schmiedeeisernen Zaun und einem ebensolchen Tor versteckt, ein streng zurechtgestutzter
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