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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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Blick auf die Wand, an der goldgerahmte Fotos von ihm mit diversen Kommunalbeamten und unbedeutenderen Honoratioren hingen. »Erst gestern sagte ich zu Marjorie, dass er es zu einiger Bekanntheit hätte bringen können, wenn er die Neigung dazu verspürt hätte.«
    »Mein Bruder teilte Mr. Tewkesburys Abneigung gegen die Kommunalpolitik«, erwiderte der Major.
    »Ganz richtig«, sagte Mortimer, setzte sich wieder an seinen Mahagoni-Schreibtisch und deutete auf einen Clubsessel. »Es geht schließlich auch völlig chaotisch zu dort. Ich sage immer zu Elizabeth, dass ich mich komplett daraus zurückziehen würde, wenn man mich ließe.« Der Major schwieg. »Also, fangen wir an?« Mortimer zog einen dünnen, cremefarbenen Aktenordner aus einer Schreibtischschublade und schob ihn über die riesige Fläche hinweg zum Major hinüber. Als er den Arm ausstreckte, kamen seine feisten Handgelenke aus den steif gestärkten weißen Manschetten hervor, und die Anzugjacke warf an den Schultern dicke Falten. Er öffnete den Ordner mit seinen Wurstfingern und drehte ihn so, dass der Major alles lesen konnte. Helle Fingerabdrücke zierten jetzt das schlichte, maschinenbeschriebene Blatt mit der Überschrift »Testament von Robert Carroll Pettigrew«.
    »Wie Sie wissen, hat Bertie Sie zum Testamentsvollstrecker bestimmt. Falls Sie gewillt sind, diese Aufgabe zu übernehmen, wären ein paar Formulare zu unterzeichnen. Als Testamentsvollstrecker werden Sie einige wohltätige Zuwendungen und kleine Anlagekonten zu betreuen haben. Nichts sonderlich Anstrengendes. Als Testamentsvollstrecker steht Ihnen traditionsgemäß eine kleine Aufwandsentschädigung zu – für Ihre Auslagen und so fort –, aber vielleicht wollen Sie darauf ja verzichten …«
    »Ich lese es mir jetzt einfach mal durch«, sagte der Major.
    »Selbstverständlich, selbstverständlich. Lassen Sie sich Zeit.« Mortimer lehnte sich zurück und verschränkte die Hände über seiner prall ausgefüllten Weste, als wollte er gleich ein Nickerchen machen, hielt den Blick jedoch konzentriert auf sein Gegenüber gerichtet. Der Major erhob sich.
    »Ich gehe nur kurz ans Licht damit.« Das große, auf den Platz hinausgehende Fenster war zwar nur ein, zwei Meter entfernt, aber die wenigen Schritte ermöglichten zumindest einen Anschein von Ungestörtheit.
    Berties Testament bestand aus einem einzigen Blatt mit großen Abständen zwischen den Zeilen. Sein Besitz wurde seiner geliebten Ehefrau vermacht, und er bat seinen Bruder, das Testament zu vollstrecken, um sie in schwerer Zeit von bürokratischen Aufgaben zu entlasten. Für Gregory und etwaige später zur Welt kommende Enkelkinder war ein kleines Anlagekonto eröffnet worden. Außerdem sollten drei Institutionen mit wohltätigen Zuwendungen bedacht werden: Die alte private Grundschule der beiden Brüder erhielt tausend Pfund, Berties Kirche und der anglikanischen Pfarrkirche St. Mary’s in Edgecombe waren jeweils zweitausend zugedacht. Kichernd stellte der Major fest, dass Bertie, Marjorie zuliebe schon seit langem praktizierender Presbyterianer, beim Allmächtigen lieber auf Nummer sicher gegangen war. Nach der Lektüre des gesamten Testaments begann der Major von vorn und las alles ein zweites Mal durch, um auch ja keinen Absatz zu übersehen. Danach tat er nur mehr so, als würde er lesen. Er wollte Zeit gewinnen, um seine Betroffenheit zu überwinden.
    In Berties Testament war keine Rede von der Vermachung irgendwelcher persönlichen Gegenstände an wen auch immer. In einer einzigen Zeile hieß es lediglich: »Über meine persönliche Habe soll meine Frau bestimmen, wie sie es für richtig hält. Sie kennt meine diesbezüglichen Wünsche.« Diese Unverblümtheit passte nicht zum Rest des Dokuments. Aus den wenigen Worten spürte der Major sowohl die Kapitulation seines Bruders vor seiner Frau heraus als auch eine Rechtfertigung ihm selbst gegenüber. »Sie kennt meine diesbezüglichen Wünsche«, las er noch einmal.
    »Ah – Tee! Danke, Mary.« Mortimer brach sein umsichtiges Schweigen, als das dünne Mädchen, seine Sekretärin, mit einem kleinen goldenen Tablett hereinkam, auf dem zwei Teetassen aus feinem Porzellan und ein Teller mit zwei trockenen Keksen standen. »Ist die Milch auch wirklich frisch?«, fragte er zimperlich, und seine Stimme ließ erkennen, dass es für Pettigrew nun wirklich an der Zeit sei, mit dem Lesen aufzuhören und zur Sache zu kommen. Widerwillig wandte der Major sich vom Fenster

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