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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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gewinnen.
    »Völlig undenkbar«, sagte er.
    »Gut, dann wäre das also erledigt«, sagte Mortimer. »Sprechen Sie bitte mit Marjorie, ja? Dann ist auch klar, dass Sie sich in keinem Interessenkonflikt befinden. Ich muss das Testament bald gerichtlich bestätigen lassen – wenn Sie sich also bitte nochmals mit mir in Verbindung setzen würden …«
    »Und wenn sie sich weigert, mir das Gewehr zu geben?«, fragte der Major.
    »Dann würde ich Ihnen empfehlen, das Amt des Testamentsvollstreckers abzulehnen, um die Testamentsbestätigung zu beschleunigen.«
    »Das kann ich nicht machen«, wandte der Major ein. »Es ist meine Pflicht gegenüber Bertie.«
    »Ich weiß, ich weiß«, sagte Mortimer. »Wir beide sind pflichtbewusste Menschen, Ehrenmänner. Aber wir leben heute in einer anderen Welt, mein lieber Major, und ich wäre ein nachlässiger Anwalt, wenn ich Marjorie dann nicht riete, Ihre Befähigung für dieses Amt in Frage zu stellen.« Weil er möglichst feinfühlig klingen wollte, presste er sich die Wörter aus dem Mund wie den letzten Rest Zahnpasta aus der Tube. Dabei hatte er den maskenhaften Gesichtsausdruck eines Menschen, der gerade abwägt, wie viel Lächeln angebracht ist. »Wir müssen selbst den Anflug irgendwelcher unredlichen Absichten vermeiden. Wir haben es da mit Fragen der Haftbarkeit zu tun, verstehen Sie?«
    »Ich verstehe offenbar überhaupt nichts«, gab der Major zurück.
    »Reden Sie mit Marjorie, und rufen Sie mich so bald wie möglich an.« Mortimer erhob sich von seinem Sessel und streckte die Hand aus. Auch der Major stand auf. Jetzt wünschte er, er hätte einen Anzug statt dieses lächerlichen schwarzen Pullovers angezogen. Dann wäre es Mortimer schwerer gefallen, ihn wegzuschicken wie einen Schulbuben.
    »So weit hätte es nie kommen dürfen«, sagte der Major. »Die Kanzlei Tewkesbury vertritt die Interessen meiner Familie schon seit Generationen.«
    »Was wir als ein Privileg empfinden«, sagte Mortimer, als hätte ihm der Major ein Kompliment gemacht. »Wir sind zwar heutzutage rechtlich stärker gebunden, aber Sie dürfen sicher sein, dass Tewkesbury and Teale immer nur das Beste für Sie wollen.« Der Major dachte bei sich, dass er, sobald die Sache geregelt war, vielleicht doch tun würde, was er von Anfang an hätte tun sollen – sich einen anderen Anwalt suchen.
    Er trat aus der Kanzlei auf den Platz hinaus und war ein paar Sekunden lang geblendet. Der Nebel über dem Meer war verschwunden, und die Stuckfassaden der Villen hatten im nachmittäglichen Sonnenlicht blasse Farben angenommen. In der plötzlichen Wärme entspannte sich sein Gesicht. Er holte tief Luft, und ihm war, als würde der in Mortimer Teales Kanzlei herrschende Geruch nach Möbelwachs und Habgier vom Salzwasser in der Luft hinweggeschwemmt.

[home]
    Fünftes Kapitel
    D ie Behauptung, er hätte Bertie das Gewehr nie missgönnt, war eine blanke Lüge gewesen. Der Major saß am Meer, den Rücken an die Holzleisten einer Parkbank gelehnt, hielt das Gesicht in die Sonne und lauschte den Wellen, die sich auf dem Kies brachen. Der Pullover absorbierte die Hitze so wirkungsvoll wie ein schwarzer Plastikmüllsack, und im Windschatten der schwarz geteerten Unterstände, in denen die Fischer ihre Netze trockneten, saß es sich angenehm.
    Die Natur hat etwas Großzügiges, dachte der Major. Die Sonne verschenkte ihre Wärme und ihr Licht. Er dagegen war im Grunde schäbig – schäbig wie eine Nacktschnecke, die mittags auf dem Klinker vor sich hin schrumpelte. Er saß hier, er lebte und genoss die Herbstsonne, während Bertie tot war. Aber nicht einmal jetzt konnte er den ihn schon so viele Jahre quälenden Ärger darüber ablegen, dass Bertie das Gewehr bekommen hatte. Und ebenso wenig gelang es ihm, das unwürdige Gefühl abzuschütteln, dass Bertie das gewusst hatte und sich jetzt bei ihm für seine Missgunst revanchierte.
    An einem Tag im Sommer hatte seine Mutter ihn und Bertie ins Esszimmer gerufen, wo der Vater, der an einem Lungenemphysem litt, in seinem geliehenen Krankenhausbett dahinsiechte. Die Rosen blühten besonders üppig in jenem Jahr, und durch die offene Terrassentür verströmten die nickenden Köpfe einer alten rosaroten Damaszener Rose ihren Duft. Auf der geschnitzten Anrichte standen noch die silberne Suppenterrine und die Kerzenhalter seiner Großmutter, aber die Hälfte der Fläche nahm ein Sauerstoffgerät ein. Der Major haderte noch immer mit seiner Mutter, weil sie den Arzt hatte

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