Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
Vom Netzwerk:
bestimmen lassen, dass der Vater zu schwach sei, um noch weiter aufrecht im Rollstuhl sitzen zu können. Ihn hinauszuschieben in die sonnige, geschützte Terrassenecke mit Blick auf den Garten hätte ihm gewiss gutgetan. Und wäre es wirklich so schlimm gewesen, wenn sein Vater sich eine Erkältung geholt hätte oder müde geworden wäre? Sie beglückwünschten ihn zwar jeden Tag fröhlich zu seinem guten Zustand, aber außerhalb des Krankenzimmers gab niemand vor zu glauben, dies wären nicht seine letzten Tage.
    Damals war der Major Leutnant gewesen, seine Offiziersausbildung lag ein Jahr zurück. Zehn Tage Sonderurlaub hatte er von seinem Stützpunkt bekommen. Die Zeit war dahingeschlichen, eine stille Ewigkeit mit geflüsterten Worten im Esszimmer und dicken Sandwiches in der Küche. Während sein Vater, der nicht immer menschliche Wärme hatte zeigen können, ihm jedoch Pflicht- und Ehrbewusstsein beigebracht hatte, sich durch das Ende seines Lebens keuchte, versuchte der Major, der Rührung nicht nachzugeben, die ihn hin und wieder bedrohte. Seine Mutter und Bertie schlichen sich oft in ihre Zimmer und weinten die Kopfkissen nass, aber er setzte sich lieber zu seinem Vater ans Bett und las ihm etwas vor oder half der privaten Krankenschwester, den abgezehrten Körper umzudrehen. Sein Vater, den die Krankheit weniger verwirrt gemacht hatte, als alle annahmen, sah das Ende kommen und ließ seine beiden Söhne und die zwei so hochgeschätzten Churchill-Gewehre holen.
    »Die sollt ihr bekommen«, sagte er. Er öffnete das Messingschloss und hob den gut geölten Deckel. Die Flinten glänzten in ihren roten Samtbetten. Die feine Gravur auf den Seiten der silbernen Baskülen wies nicht die kleinste Trübung, nicht den kleinsten Fleck auf.
    »Das muss doch wirklich nicht jetzt sein, Vater«, hatte er gesagt. Aber begierig war er doch gewesen; vielleicht war er sogar vorgetreten und hatte seinen jüngeren Bruder halb verdeckt.
    »Ich möchte, dass sie immer in der Familie bleiben«, hatte sein Vater mit angstvollem Blick gesagt. »Aber wie soll ich einen meiner beiden Jungen bestimmen und sagen, nur einer von euch darf sie haben?« Er sah zur Mutter hin. Die nahm seine Hand und tätschelte sie sanft.
    »Diese Gewehre bedeuten eurem Vater sehr viel«, sagte sie schließlich. »Wir wollen, dass jeder eines bekommt, damit ihr immer an ihn denkt.«
    »Eigenhändig hat sie mir der Maharadscha überreicht«, flüsterte der Vater. Die alte Geschichte, immer und immer wieder erzählt, war dünngescheuert und an den Rändern ausgefranst wie ein altes Tischtuch. Ein heldenhafter Augenblick; ein indischer Fürst, ehrenhaft genug, um den tapferen Dienst eines britischen Offiziers zu einer Zeit zu vergelten, als alles ringsumher die Vertreibung der Briten forderte. Damals hatte seinen Vater der Mantelsaum der Geschichte gestreift. Mochte das Kästchen mit den Orden, mochten die Uniformen im Speicher vermodern – die beiden Flinten waren stets geölt und schussbereit.
    »Sollen sie wirklich auseinandergerissen werden, Vater?«, platzte es aus ihm heraus. Das Erbleichen seiner Mutter zeigte sofort, wie erbärmlich die Frage war.
    »Ihr könnt sie euch ja gegenseitig überlassen, damit sie gemeinsam in die nächste Generation übergeben werden – aber sie müssen natürlich in der Familie Pettigrew bleiben.« Es war das einzige Mal gewesen, dass er seinen Vater als feig erlebte.
    Die Gewehre waren nicht Bestandteil des Nachlasses, über den seine Mutter bis zu ihrem Tod verfügen konnte und der dann auf ihn als dem ältesten Sohn überging. Bertie wurde aus einem kleinen Treuhandvermögen ausgezahlt. Als seine Mutter zwanzig Jahre später starb, war dieses Vermögen zu einer erschreckend geringen Summe zusammengeschrumpft. Und auch das Haus war mittlerweile ziemlich heruntergekommen. In einigen der Balken aus dem siebzehnten Jahrhundert saß die Fäulnis, und die für Sussex typischen Außenwände – im Erdgeschoss aus Ziegeln bestehend, darüber mit Dachziegeln verkleidet – benötigten eine umfangreiche Ausbesserung. Dabei schuldete ihre Mutter dem Gemeinderat Geld. Im Vergleich mit den kleineren reetgedeckten Cottages in der Straße wirkte das Haus immer noch stattlich und vornehm, stellte aber, wie er Bertie versichert hatte, eher eine Belastung als eine großartige Erbschaft dar. Als Geste des guten Willens hatte er Bertie den Hauptanteil des mütterlichen Schmucks angeboten. Außerdem hatte er versucht, seinem Bruder das

Weitere Kostenlose Bücher