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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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Gewehr abzukaufen – gleich nach dem Tod der Mutter und noch mehrmals in den Jahren danach, als Bertie in Geldschwierigkeiten steckte. Doch sein jüngerer Bruder hatte die großzügigen Offerten stets abgelehnt.
    Als eine Möwe einen kehligen Schrei ausstieß, zuckte der Major zusammen. Der Vogel watschelte mit weit ausgebreiteten Flügeln auf dem betonierten Weg dahin und versuchte, eine Taube von einem Stück Brot zu vertreiben. Die Taube wollte das Brotstück aufpicken und damit davonflattern, aber der Brocken war zu groß. Der Major stampfte mit dem Fuß auf. Die Möwe sah ihn verächtlich an und flatterte einen Meter zurück, während die Taube, ohne ihm auch nur einen einzigen dankbaren Blick zuzuwerfen, das Brot wie ein Plättchen beim Flohhüpfen über den Weg vor sich hin schnipste.
    Der Major seufzte. Er hatte sich immer bemüht, seine Pflicht zu erfüllen, ohne dafür Dankbarkeit oder auch nur Anerkennung zu erwarten. Es konnte doch nicht sein, dass er all die Jahre hindurch Berties Unmut erregt hatte …
    Dass er der älteste Sohn war, hatte dem Major nie Schuldgefühle bereitet. Natürlich war die Geschwisterfolge etwas Zufälliges, aber ebenso unterlag es dem Zufall, dass er nicht in eine Adelsfamilie mit riesigem Grundbesitz hineingeboren worden war. Er hatte gegenüber Menschen, die bereits durch ihre Geburt eine bedeutende gesellschaftliche Position besaßen, niemals Feindseligkeit empfunden. Als Nancy und er sich kennenlernten, hatte sie mit ihm darüber gestritten. Das war in den sechziger Jahren gewesen, sie war jung und glaubte, Liebe bedeute, von gebackenen Bohnen und den moralischen Anweisungen der Folkmusik zu leben. Aber er hatte ihr mit Engelsgeduld erklärt, dass das Weitergeben des eigenen Namens und der Erhalt eines Vermögens schon an sich ein Akt der Liebe war.
    »Wenn wir alles immer weiter aufteilen und in jeder Generation mehr Menschen ihren Anteil fordern, dann verschwindet alles, als hätte es nie etwas bedeutet.«
    »Es geht darum, den Reichtum umzuverteilen«, hatte sie entgegnet.
    »Nein, es geht darum, dass der Name Pettigrew aussterben würde. Es geht darum, dass ich meinen Vater und seinen Vater vergessen würde. Es geht um den Egoismus der jetzigen Generation, die die Erinnerungen an die Vergangenheit zerstört. Keiner hat heutzutage mehr Ahnung davon, wie man etwas bewahrt.«
    »Du bist bezaubernd, wenn du so verdammt spießig und konservativ bist«, sagte Nancy lachend, und da musste er auch lachen. Sie holte ihn von seinem Sockel herunter, damit er sie sehen konnte. Sie brachte ihn dazu, außer Dienst unmögliche Hemden und Socken in knalligen Farben zu tragen. Einmal rief sie ihn nach einer Studentendemonstration aus einem Polizeirevier an, und er musste in Galauniform vor den Schreibtisch des Nachtdienstbeamten treten. Der hielt ihr noch eine Standpauke und ließ sie dann gehen.
    Nach der Hochzeit durchlebten sie schmerzliche Jahre, weil keine Kinder kommen wollten. Doch dann, im allerletzten Moment, bekamen sie Roger, und mit nur einem Kind gab es wenigstens keinen Streit um das Vermögen. In Erinnerung an Nancys Vorstellungen von Großzügigkeit hatte er in seinem Testament pflichtbewusst eine hübsche kleine Summe Bargeld für die Nichte Jemima vermerkt. Darüber hinaus hatte er bestimmt, dass Jemima das zweitbeste Porzellanservice seiner Großmutter mütterlicherseits bekommen sollte. Bertie hatte oft angedeutet, dass ihm diese Teller gefielen, aber der Major hatte Bedenken gehabt, Marjorie edles Minton-Geschirr, wenn auch noch so verblasst und mit Rissen durchzogen, anzuvertrauen. Sie zerbrach so oft Geschirr, dass jedes Abendessen, das Bertie und sie gaben, auf Tellern mit einem anderen Muster serviert wurde.
    Ein Testament auf dem aktuellsten Stand mit genauen Anweisungen war dem Major stets wichtig gewesen. Er als Offizier (immer auf der unsicheren Seite, wie er sich gern ausdrückte) hatte es als tröstlich empfunden, seine kleine Metallschatulle zu öffnen, die Blätter aus verstärktem Papier vor sich auszubreiten und die Liste mit den Vermögenswerten und deren Aufteilung durchzugehen. Für ihn las sich sein Testament wie ein Verzeichnis all seiner Errungenschaften.
    Mit Marjorie würde er einfach Klartext reden müssen. Sie konnte im Augenblick keinen vernünftigen Gedanken fassen. Er würde ihr noch einmal erläutern, worum es seinem Vater gegangen war. Und auch mit Roger gab es etwas zu klären. Er hatte nicht die Absicht, um die Zusammenführung der

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