Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
Vom Netzwerk:
beiden Gewehre zu kämpfen, nur damit Roger sie dann nach dem Tod seines Vaters verkaufte.
    »Ah, da sind Sie ja, Major!« Der Major richtete sich auf und blinzelte gegen das grelle Licht. Es war Mrs. Ali, die in der einen Hand ihre große Tragetasche, in der anderen ein neues Bibliotheksbuch hielt. »Sie waren nicht auf dem Parkplatz.«
    »Ist es schon so spät?«, fragte der Major und sah erschrocken auf seine Armbanduhr. »Ich habe ganz die Zeit vergessen. Gnädige Frau, es ist mir unendlich peinlich, dass ich Sie habe warten lassen.« Jetzt, da unbewusst erreicht war, was er willentlich niemals zu planen gewagt hätte, fühlte er sich völlig hilflos.
    »Kein Problem«, sagte Mrs. Ali. »Ich wusste ja, dass Sie irgendwann auftauchen würden, und weil der Tag so unerwartet schön wurde, beschloss ich, ein bisschen spazieren zu gehen und vielleicht einen ersten Blick in mein Buch zu werfen.«
    »Die Parkplatzgebühr übernehme selbstverständlich ich.«
    »Das ist wirklich nicht nötig.«
    »Erlauben Sie mir dann wenigstens, Sie auf eine Tasse Tee einzuladen?«, fragte er so hastig, dass die Wörter förmlich darum rangelten, über seine Lippen zu kommen. Als Mrs. Ali zögerte, fügte er hinzu: »Wenn Sie es eilig haben, nach Hause zu fahren, würde ich das natürlich verstehen.«
    »Nein, ich habe keine Eile«, sagte sie und blickte rechts und links die Promenade hinunter. »Wenn Sie glauben, dass das Wetter hält, könnten wir vielleicht zu dem Kiosk im Park gehen. Aber natürlich nur, wenn Sie sich dazu wohl genug fühlen.«
    »Das wäre herrlich«, sagte der Major, obwohl er den Verdacht hegte, dass der Tee im Kiosk in Styroporbechern ausgeschenkt wurde und es dazu Kondensmilch in diesen kleinen Dingern gab, die kein Mensch aufbekam.
     
    Wenn man, wie der Major und Mrs. Ali, die Promenade in ostwestlicher Richtung entlangging, durchschritt man wie auf einer dreidimensionalen Zeitleiste die Geschichte von Hazelbourne-on-Sea. Die Unterstände mit den trocknenden Netzen und die zum Kies hinaufgezogenen Fischerboote, bei denen der Major gesessen hatte, gehörten zur Altstadt, deren Häuser sich an engen Kopfsteinpflastergassen entlangschlängelten. In den schiefen Läden aus der Tudorzeit, deren Eichenbalken der Lauf der Zeit fast versteinert hatte, verstaubten die angehäuften Billigwaren.
    Je weiter man ging, umso wohlhabender wurde die Stadt. Im mittleren Abschnitt der Promenade thronten die Kupferdächer des viktorianischen Piers, seine weißen Holzwände und das verschnörkelte Gusseisen wie eine riesige Zuckergusstorte über dem Ärmelkanal. Hinter dem Pier wurden die Häuser und Hotels imposant. Ihre Portiken und die dunklen Markisen über den hohen Fenstern schienen einen gewissen Unmut über das flüchtige Treiben auf den dicken Teppichen in ihrem Inneren auszudrücken. Zwischen Hotels, die jeweils einen ganzen Häuserblock bildeten, lagen kleine, von Villen gesäumte Plätze und breite Straßen mit geschwungenen Stadthausfassaden. Der Major bedauerte sehr, dass diese Eleganz inzwischen von den dicht gedrängten, schräg durcheinander geparkten Autos, die an Sardinen in einer Fischkiste erinnerten, hoffnungslos verunstaltet wurde.
    Hinter dem Hotel mit dem passenden Namen »Grand Hotel« fand der Gang durch die Stadtgeschichte ein abruptes Ende. Dort bildeten die ansteigenden Kreideklippen eine riesige Landspitze. Bei keinem seiner häufigen Spaziergänge entlang der Promenade versäumte es der Major, darüber nachzudenken, ob dies nicht ein Symbol war für die Hybris allen menschlichen Fortschritts und die Weigerung der Natur, sich ihm zu beugen.
    In letzter Zeit hatte er manchmal Angst, der Spaziergang und seine Hypothese könnten sich so unentwirrbar miteinander verknüpft haben, dass sich beides wie Verrücktheit durch sein Hirn wand. Es war ihm beispielsweise unmöglich, im Gehen an die Ergebnisse der Pferderennen zu denken oder daran, dass er sein Wohnzimmer streichen lassen wollte. Er versuchte, es der Tatsache zuzuschreiben, dass er niemanden hatte, mit dem er über den Gedanken reden konnte. Vielleicht würde er das Thema Mrs. Ali gegenüber anschneiden, falls ihnen beim Tee der Gesprächsstoff ausgehen sollte.
    Mrs. Ali schlenderte gemächlich dahin. Um sich ihrem Rhythmus anzupassen, begann der Major, leicht zu schlurfen. Er hatte vergessen, wie man eine Frau das Tempo bestimmen lässt.
    »Gehen Sie gern spazieren?«, fragte er.
    »Ja. Drei-, viermal in der Woche versuche ich, früh

Weitere Kostenlose Bücher