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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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rauszugehen«, antwortete Mrs. Ali. »Ich bin die Verrückte, die während des morgendlichen Vogelkonzerts durch die Straßen wandert.«
    »Eigentlich müssten wir anderen uns Ihnen anschließen. Die Vögel vollbringen jeden Morgen wahre Wunder – die ganze Welt sollte aufstehen und ihnen zuhören.« Spätnachts lag er oft wach, ans Bett gefesselt von einer Schlaflosigkeit, die zu gleichen Teilen aus Wachheit und Tod zu bestehen schien. Dann spürte er das Blut durch seine Adern strömen, konnte aber keinen Finger, keine Zehe rühren. Lag mit juckenden Augen da und suchte die halbdunkle Kontur des Fensters nach einem Anzeichen von Licht ab. Noch vor der ersten Spur von Helligkeit begannen die Vögel. Erst ein bisschen gewöhnliches Gezwitscher (Spatzen und dergleichen), dann vereinigte sich das Geträller und Gepiepse zu einem Wasserfall aus Musik, zu einem Chor, der aus den Sträuchern und Bäumen tönte. Der Klang löste seine Glieder, so dass er sich umdrehen und strecken konnte, und vertrieb alle Angst. Dann sah er zum Fenster hin, das der Gesang jetzt hell gefärbt hatte, und rollte sich zur Seite in den Schlaf.
    »Trotzdem sollte ich mir wohl besser einen Hund anschaffen«, sagte Mrs. Ali. »Hundebesitzer hält niemand für verrückt, selbst wenn sie im Schlafanzug rausgehen.«
    »Welches Buch haben Sie heute mitgenommen?«, fragte der Major.
    »Kipling. Ein Kinderbuch, wie die Bibliothekarin mir mehrfach erklärte, aber die Erzählungen sind hier in der Gegend angesiedelt.« Sie zeigte ihm eine Ausgabe von
Puck vom Buchsberg,
einem Buch, das der Major schon oft gelesen hatte. »Bisher kannte ich nur seine indischen Sachen,
Kim
beispielsweise.«
    »Ich habe mich selbst immer als eine Art Kipling-Liebhaber betrachtet«, sagte der Major. »Er ist ja heutzutage ein eher aus der Mode geratener Autor, nicht wahr?«
    »Meinen Sie damit, dass er bei uns, den zornigen früheren Einheimischen des indischen Subkontinents, nicht beliebt ist?«, fragte Mrs. Ali mit hochgezogener Augenbraue.
    »Nein, natürlich nicht …« Der Major fühlte sich nicht dafür gerüstet, auf eine so direkte Bemerkung zu reagieren. Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Einen Moment lang glaubte er, er sähe Kipling, der sich im braunen Anzug und mit buschigem Schnurrbart am Ende der Promenade landeinwärts wandte. Er blickte blinzelnd geradeaus und betete darum, dass sich das Thema von selbst erledigen würde, wenn er nicht weiter darauf einging.
    »Ich habe ihn tatsächlich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gelesen«, sagte Mrs. Ali. »Für mich gehörte er zu denen, die sich weigern, über die eigentliche Bedeutung des Empires nachzudenken. Aber mit zunehmendem Alter wird mir mein Recht auf philosophische Nachlässigkeit immer wichtiger. Es ist unglaublich anstrengend, so rigoros zu bleiben, wie man es als junger Mensch war, finden Sie nicht?«
    »Ich kann Ihrer Logik nur beipflichten«, erwiderte der Major und verkniff es sich, das Empire, dem sein Vater so stolz gedient hatte, zu verteidigen. »Ich persönlich habe kein Verständnis für dieses ewige Herumanalysieren an der politischen Einstellung eines Schriftstellers. Der Mann hat ungefähr fünfunddreißig Bücher geschrieben – sollen sie doch seine Texte analysieren!«
    »Meinen Neffen wird es schon wahnsinnig machen, dass das Buch überhaupt im Haus ist«, sagte Mrs. Ali kaum merklich lächelnd.
    Der Major wusste nicht recht, ob er nun Fragen zu ihrem Neffen stellen sollte. Er war zwar überaus neugierig, sah es aber nicht als sein Recht an, sich direkt nach dem Mann zu erkundigen. Sein Wissen über das Leben und die Familien seiner Freunde im Dorf hatte er sich nach und nach angeeignet. Die Informationen hatten sich aus beiläufigen Bemerkungen heraus wie Perlen aneinandergereiht, und oft vergaß er ältere Informationen, wenn neue dazukamen, so dass ihm nie das ganze Bild vor Augen stand. Er wusste beispielsweise, dass Alma und Alec Shaw eine Tochter in Südafrika hatten, aber ob deren Mann nun plastischer Chirurg in Johannesburg war oder von Kapstadt aus Plastik importierte – daran konnte er sich nicht erinnern. Er wusste, dass die Tochter vor Nancys Tod zum letzten Mal in der Heimat gewesen war, aber diese Information beinhaltete keinerlei Erklärung, sondern nur einen unausgesprochenen Schmerz.
    »Haben Sie noch weitere Neffen oder Nichten?«, fragte er, besorgt, dass selbst in dieser nichtssagenden Höflichkeitsfloskel die Frage mitschwingen könnte, warum sie keine

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