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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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Kinder hatte, und Mrs. Ali sie womöglich als ungehörige Anspielung darauf verstand, dass sie doch bestimmt aus einer großen Familie komme.
    »Ich habe nur diesen einen Neffen. Seine Eltern, der Bruder meines Mannes und seine Frau, haben drei Töchter und sechs Enkelinnen.«
    »Dann ist Ihr Neffe also der Goldjunge der Familie.«
    »Er war auch mal mein Goldjunge, als er noch klein war. Aber Ahmed und ich haben ihn offenbar schrecklich verzogen.« Sie drückte das Buch ein wenig fester an die Brust und seufzte. »Uns waren keine eigenen Kinder vergönnt, und Abdul Wahid war als kleiner Junge meinem Mann wie aus dem Gesicht geschnitten. Außerdem war er ein sehr verständiges und sensibles Kind. Ich dachte, aus ihm würde einmal ein Dichter werden.«
    »Ein Dichter?« Der Major versuchte, sich den zornigen jungen Mann beim Verseschreiben vorzustellen.
    »Als Abdul Wahid alt genug war, um in einem der Läden seiner Eltern mitzuhelfen, hat mein Schwager ihm die Flausen ausgetrieben. Wahrscheinlich war ich einfach naiv. Ich hätte so gern die Welt der Literatur und der Ideen mit ihm geteilt und an ihn weitergegeben, was man mich gelehrt hatte.«
    »Ein edles Unterfangen«, sagte der Major. »Aber ich habe nach meiner Armeezeit in einem Internat Englisch unterrichtet und kann Ihnen sagen, dass es so gut wie unmöglich ist, Jungs über zehn zum Lesen zu bewegen. Die meisten besitzen kein einziges Buch, wissen Sie.«
    »Das kann ich mir gar nicht vorstellen«, erwiderte Mrs. Ali. »Ich bin mit einer tausendbändigen Bibliothek groß geworden.«
    »Wirklich?« Er hatte nicht so skeptisch klingen wollen, aber von Lebensmittelhändlerinnen mit großen Bibliotheken hatte er noch nie gehört.
    »Mein Vater war Akademiker«, sagte Mrs. Ali. »Nach der Teilung von Britisch-Indien kam er hierher, um Angewandte Mathematik zu unterrichten. Meine Mutter erzählte immer, sie habe nur zwei Kochtöpfe und ein Foto ihrer Eltern mitnehmen dürfen. In allen anderen Koffern waren Bücher. Es war meinem Vater sehr wichtig, möglichst alles zu lesen.«
    »Alles?«
    »Ja, Literatur, Philosophie, Naturwissenschaften – ein hoffnungslos romantisches Bestreben natürlich, aber er hat wirklich Unmengen gelesen.«
    »Ich versuche, so in etwa ein Buch pro Woche zu schaffen«, sagte der Major. Er war ziemlich stolz auf seine kleine Sammlung vorwiegend ledergebundener Ausgaben, die er in London bei den ein, zwei guten Buchhandlungen erstanden hatte, die es in der Charing Cross Road noch gab. »Ich muss aber gestehen, dass ich inzwischen vor allem meine alten Lieblinge wieder lese – Kipling, Johnson. Die Großen sind einfach mit nichts zu vergleichen.«
    »Sie bewundern tatsächlich Samuel Johnson, Major?« Mrs. Ali lachte. »Dabei hatte er es doch so gar nicht mit der Körperhygiene und benahm sich dem armen Boswell gegenüber so rüpelhaft.«
    »Leider bedingen sich Genie und mangelnde Körperhygiene sehr oft gegenseitig«, gab der Major zurück. »Es wäre ein schwerer Fehler, die Großen mit dem Bade gesellschaftlicher Feinheiten auszuschütten.«
    »Wenn sie nur hin und wieder ein Bad nehmen würden!«, sagte Mrs. Ali. »Sie haben natürlich recht, aber ich sage mir, dass es ganz egal ist, was wir lesen, wer unsere Lieblingsautoren sind und für welche speziellen Themen wir uns interessieren, solange wir überhaupt lesen. Nicht einmal, dass man die Bücher besitzt, ist wichtig.« Sie strich mit der Hand über den gelben Kunststoffeinband des Bibliotheksbuchs. Sie wirkte traurig.
    »Und die Bibliothek Ihres Vaters?«
    »Weg. Nach seinem Tod erschienen meine Onkel aus Pakistan und kümmerten sich um den Nachlass. Eines Tages kam ich von der Schule heim, und meine Mutter und meine Tante wischten gerade die leeren Regale ab. Meine Onkel hatten die Bücher nach Gewicht verkauft. Es roch nach Rauch, und als ich zum Fenster lief …« Sie stockte und holte tief Luft.
    Erinnerungen sind wie Grabgemälde, dachte der Major. Egal, wie viele Schlamm- und Sandschichten die Zeit darübergebreitet hat, die Farben bleiben immer leuchtend. Man braucht nur an ihnen zu kratzen, schon sind sie wieder da, flammend rot.
    Mrs. Ali blickte den Major mit gerecktem Kinn an. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie gelähmt ich mich fühlte, wie sehr ich mich schämte, als ich zusah, wie meine Onkel im Garten Bücher in den Verbrennungsofen warfen. Ich schrie meine Mutter an, sie solle sie aufhalten, aber sie ließ nur den Kopf hängen und schüttete die nächste Ladung

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