Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Tee, bitte schön.«
»Ganz frischen Zitronenkuchen hätte ich da«, bemerkte die Kioskdame, während sie zwei Becher mit dunkelrotem Tee füllte. Als der Major nickte, war sie schon dabei, zwei dicke Scheiben abzuschneiden.
Sie tranken ihren Tee an einem kleinen Metalltisch im Schutz einer wuchernden, von welken Herbstblüten ganz rostig aussehenden Hortensie. Beide schwiegen, und Mrs. Ali aß ihr Stück Kuchen, ohne auch nur im mindesten verlegen daran herumzunagen, wie es manch andere Damen zu tun pflegten. Der Major blickte aufs Meer und spürte einen seinem Leben in letzter Zeit ganz fremden Anflug von Zufriedenheit. Ein Gin Tonic mit Alec und den anderen an der Bar im Golfclub gab ihm jedenfalls nicht annähernd die innere Ruhe, dieses leise glimmende Glücksgefühl, das ihn jetzt erfüllte. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er oft einsam war, selbst inmitten vieler Freunde. Er atmete tief aus. Es musste wie ein Seufzer geklungen haben, denn Mrs. Ali hob, ihren Teebecher am Mund, den Blick.
»Entschuldigen Sie, ich habe gar nicht gefragt, wie es Ihnen geht«, sagte sie. »Das Gespräch mit dem Anwalt heute ist Ihnen bestimmt nicht leichtgefallen.«
»Um diese Dinge muss man sich eben kümmern«, sagte der Major. »Aber ein ziemliches Durcheinander ist es schon. Die Leute nehmen sich oft nicht die Zeit, um klare Anweisungen zu hinterlassen, und dann müssen die Testamentsvollstrecker alles in Ordnung bringen.«
»Ach, die Testamentsvollstrecker.« Der trockene, zischende Ton, in dem sie das Wort aussprach, beschwor die Vorstellung von graugesichtigen Männern herauf, die in durchwühlten Zimmern herumtapsten und nach Gegenständen von gleichem Wert suchten.
»Zum Glück bin ich der Testamentsvollstrecker für meinen Bruder«, sagte der Major. »Allerdings hat er ein, zwei Dinge im Ungefähren gelassen. Ich fürchte, ich werde einige heikle Verhandlungen führen müssen, um die Dinge ins Lot zu bringen.«
»Es ist ein Glück für Ihren Bruder, einen so integeren Testamentsvollstrecker zu haben.«
»Nett, dass Sie das sagen.« Der Major gab sich Mühe, um nicht auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen, denn er hatte plötzlich Gewissensbisse. »Ich werde natürlich so fair wie nur irgend möglich vorgehen.«
»Aber Sie müssen schnell sein«, fuhr Mrs. Ali fort. »Noch bevor Sie ein Bestandsverzeichnis anlegen können, ist das Silber weg, die Tischdecken liegen auf anderer Leute Tischen, und das kleine Messing-Einhorn auf seinem Schreibtisch, das, außer für Sie, so gut wie keinen Wert hat – puff, schon wird es eingesackt, und wenn Sie danach fragen, kann sich niemand auch nur daran erinnern.«
»Also, ich glaube nicht, dass meine Schwägerin sich für so etwas hergeben würde …« Plötzlich packte ihn die Angst. »Bei einem Gegenstand von beträchtlichem Wert, meine ich. Ich glaube nicht, dass sie einen solchen Gegenstand möglichst schnell verkaufen würde.«
»Und alle wissen genau, was passiert ist, aber keiner wird jemals darüber sprechen, und die Familie lebt weiter mit ihren Geheimnissen, die zwar unsichtbar sind, aber quälend wie Sand im Schuh.«
»Man müsste es gesetzlich verbieten«, meinte der Major. Mrs. Ali tauchte aus ihren Gedanken auf und sah ihn blinzelnd an.
»Es gibt zwar das Landrecht«, sagte Mrs. Ali. »Aber vorhin sprachen wir über den Druck, den die Familie ausübt. Ersteres mag das älteste Verfassungsdokument sein, Major, aber Letzteres ist unveränderlich.« Der Major nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. Mrs. Ali spielte mit ihrem leeren Teebecher herum, indem sie fast lautlos damit auf den Tisch klopfte. Dem Major war, als hätte sich ihre Miene verdüstert, aber vielleicht lag es nur am Wetter, denn der Himmel bewölkte sich allmählich.
»Mit dem guten Wetter ist es offenbar vorbei«, sagte er und wischte sich ein paar Krümel von den Schenkeln. »Sollen wir nicht besser zurückfahren?«
Schweigend gingen sie zum Auto. Die Stimmung zwischen ihnen war ein bisschen unbehaglich, als wären sie zu tief in persönliche Bereiche eingedrungen. Der Major hätte Mrs. Ali gern um ihre Meinung über seine Lage gebeten, weil er sicher war, dass sie ihm recht geben würde, aber so schnell, wie sie dahinschritt, war sie noch immer in ihre eigenen Gedanken versunken. Er hatte nicht vor, weitere Fragen zu ihrem Leben zu stellen. Es herrschte ja jetzt schon eine prekäre Intimität, so als hätte er sie in einer Menschenmenge angerempelt. Und genau das
Weitere Kostenlose Bücher