Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
vom Kopf ab, als wäre sie gerade eben aus dem Bett gekrochen, und ihr eigentlich hübsches, jetzt der Kioskbesitzerin zugewandtes Gesicht war von Streitlust verzerrt.
»Wenn hier alle Kinder den ganzen Tag mit dem Ball rumtrampeln, gibt’s bald keine Blumen mehr«, sagte die Kioskdame. »Ich weiß ja nicht, wie es da zugeht, wo Sie herkommen, aber wir hier bemühen uns jedenfalls, dass alles schön und ansehnlich bleibt.«
»Was soll das denn heißen?«, fragte die junge Frau finster. Der Major erkannte den rauhen Tonfall des Nordens, den er mit Marjorie assoziierte. »Was meinen Sie damit?«
»Gar nichts meine ich damit«, entgegnete die Dame. »Was regen Sie sich so auf? Ich hab die Vorschriften nicht erfunden!«
Der Major hob den leicht verschmutzten Ball auf und reichte ihn dem Kleinen.
»Danke«, sagte der Junge. »Ich heiße George und mag Fußball eigentlich gar nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte der Major. »Die einzige Sportart, die mich wirklich interessiert, ist Cricket.«
»Flohhüpfen ist auch ein Sport«, erklärte George sehr ernsthaft. »Aber meine Mum hat gesagt, dass ich vielleicht die Plättchen verliere, wenn ich sie in den Park mitnehme.«
»Jetzt, wo du es sagst, fällt mir auf, dass ich noch nie in einem Park ein Schild gesehen habe, auf dem ›Flohhüpfenspielen verboten‹ steht. Also ist das vielleicht gar keine schlechte Idee.« Als der Major sich aufrichtete, kam die junge Frau angerannt.
»George, ich habe dir schon tausendmal gesagt, du sollst nicht mit fremden Männern reden!«, rief sie in einem Ton, der sie als die Mutter des Jungen auswies und nicht als seine ältere Schwester, wie der Major angenommen hatte.
»Verzeihen Sie bitte«, sagte er. »Es war ganz allein mein Fehler. Ist schon eine Weile her, dass ich das letzte Mal Fußball gespielt habe.«
»Soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, die blöde alte Kuh«, blaffte die junge Frau in einer Lautstärke, die ihre Worte bis zum Kiosk trug. »Glaubt wohl, sie hat ’ne Uniform an statt ’ner Schürze.«
»Sehr bedauernswert, das Ganze«, erklärte der Major so zurückhaltend wie möglich. Eventuell, dachte er, würden Mrs. Ali und er sich eine andere Quelle für ihren Tee suchen müssen. Die Dame vom Kiosk starrte wütend auf die kleine Gruppe.
Da ertönte eine ruhige Stimme. »Die Welt ist voll mit lauter kleinen Blödsinnigkeiten.« Plötzlich stand Mrs. Ali neben dem Major und sah die junge Frau mit strengem Blick an. »Wir sollten uns alle bemühen, sie zu ignorieren, damit sie klein bleiben, finden Sie nicht?«
Der Major wappnete sich schon gegen eine beleidigende Antwort, doch zu seiner Überraschung reagierte die junge Frau mit einem feinen Lächeln.
»Solche Sachen hat meine Mum auch immer gesagt.«
»Aber auf unsere Mütter hören wir natürlich nicht«, sagte Mrs. Ali lächelnd. »Oder zumindest erst dann, wenn wir längst selbst Mütter sind.«
»Wir müssen los, George, sonst kommen wir zu spät zum Abendessen«, sagte die junge Frau. »Verabschiede dich von den netten Leuten.«
»Ich bin George, auf Wiedersehen«, sagte der Junge zu Mrs. Ali.
Die erwiderte: »Sehr angenehm, ich bin Mrs. Ali.« Die junge Frau zuckte zusammen und betrachtete Mrs. Ali genauer. Einen Moment lang zögerte sie, als wollte sie etwas sagen, beschloss dann aber offenbar, sich nicht vorzustellen. Stattdessen ergriff sie Georges Hand und eilte mit ihm Richtung Innenstadt davon.
»Ziemlich schroff, die junge Frau«, meinte der Major.
Mrs. Ali seufzte. »Ich empfinde eher Bewunderung, wenn sich jemand weigert, vor Autoritätspersonen einzuknicken, aber leichter macht es das Leben wahrscheinlich nicht.«
Die Dame vom Kiosk war noch immer sauer und murmelte irgendetwas über Leute vor sich hin, die inzwischen glaubten, die Stadt gehöre ihnen. Der Major straffte seine Schultern noch ein wenig mehr und erhob im achtunggebietendsten Tonfall, der ihm zur Verfügung stand, das Wort – in dem Tonfall, mit dem er einst einen Raum voller kleiner Jungen zum Schweigen gebracht hatte.
»Trügen mich meine Augen oder sind das richtige Tassen, die Sie da für den Tee verwenden?« Er deutete mit dem Griff des Spazierstocks auf mehrere dicke Steingutbecher, die neben einer großen braunen Teekanne aufgereiht waren.
»Ich halte nichts von diesen Styropordingern«, sagte die Frau, und ihre Miene wurde ein klein wenig weicher. »In denen schmeckt der Tee wie Möbelpolitur.«
»Da haben Sie recht! Wir hätten gern zweimal
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