Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
starrte hinüber, bis drinnen plötzlich ein Licht anging. Sie entschied, dass das ihr Zeichen war, genau wie das Licht in der Vorratskammer des All-You-Can-Eat , das sie einst immer von ihrem Zimmerfenster aus gesehen hatte. Sie ging über die Straße und klopfte an die Tür. Ihre Fingerknöchel, die auf Holz trafen, waren zu dieser späten Stunde weit und breit das lauteste Geräusch auf der Straße.
Chick machte die Tür auf und zog geräuschvoll die Luft ein, als er sie im harten Licht der gelben Glühbirne über der Eingangstreppe stehen sah. »Barbara Jean?«, sagte er, als glaube er ein Gespenst zu sehen. Er rührte sich nicht, also öffnete sie selbst die Fliegengittertür und trat an ihm vorbei ein.
Sie gelangte in ein kleines, ordentliches Wohnzimmer, ausgestattet mit zwei Klappstühlen aus Metall, einer durchgesessenen alten Couch aus rissigem braunem Leder und einem Schreibtisch, auf dem sich fein säuberlich Aufzeichnungen und Bücher stapelten. An einer Wand standen zwei weitere Tische, auf denen sich sechs Käfige mit einem aufwändigen Lichtsystem befanden. Jeder Käfig beherbergte jeweils einen identischen kleinen Vogel mit grau-rot-weiß gestreiften Federn. Hübsche kleine Wesen, deren trauriges Girren durch den stillen Raum klang.
Chick sah, dass sie die Vögel betrachtete, und sagte: »Ich erforsche sie an der Uni. Ich arbeite da an so einem Projekt …« Er verstummte, und sie starrten sich an.
Da stand er, nach all den Jahren, nur ein paar Zentimeter von ihr entfernt. Ray Carlson. Ihr Lichtstrahl. Ihr Sonnenschein. Ihr Hoffnungsschimmer. Ray, der zu einem alten, unanständigen Bluessong nackt für sie getanzt hatte.
Es war heiß im Zimmer, da die Käfige von Wärmelampen aufgeheizt wurden, und Chick hatte kein Hemd an. Er war dünn, aber etwas breiter um die Brust als früher. Er ist noch immer schön , dachte sie, genau wie unser Sohn. Sie wandte sich von ihm ab, denn plötzlich hatte sie Angst, wenn sie ihn ansähe, würde sie es vielleicht nicht schaffen, ihm das zu sagen, weswegen sie hergekommen war.
»Barbara Jean«, sagte er. »Ich habe gehört von deinem …«
Noch immer mit dem Rücken zu ihm unterbrach sie ihn. »Ich möchte bloß eines wissen. Hat Desmond ihn wegen uns umgebracht? Hat Desmond Adam umgebracht, weil er dein Sohn war?«
Sie wartete auf seine Antwort, aber er sagte nichts. Nachdem einige Sekunden vergangen waren, drehte sie sich um und sah ihn an. Sein Mund stand offen, und sein Kiefer zuckte, aber es kamen keine Worte heraus. Als er schließlich etwas sagte, war es so leise, dass sie es kaum von dem Gurren der Vögel unterscheiden konnte. »Ich hatte keine Ahnung.«
»Du hattest keine Ahnung?«, schrie sie, selbst überrascht, dass in ihrem Inneren noch Wut übrig war. »Wie konntest du keine Ahnung haben? Hast du ihn dir jemals angesehen?«
Jedes Mal wenn Barbara Jean Adam angeschaut hatte, hatte sie Chick gesehen. Sein Profil, seine Gestalt, die Art, wie er sich bewegte. Er war ganz und gar Chick. Clarice und Odette sahen es auch. Das merkte sie an der Art, wie sie Adam manchmal anstarrten. Anderen Freunden und Bekannten schien die Ähnlichkeit nicht aufzufallen. Aber das konnte durchaus auch daran liegen, dass Lester so vernarrt in Adam war, dass niemand sich vorstellen konnte, er sei nicht sein leiblicher Sohn. Und Barbara Jean war klar, warum Lesters Familie es nicht sah. Sie hatten sich Lesters verstorbene Mutter zum Vorbild genommen, die ihr hellhäutiges Enkelkind sah und an nichts anderes mehr dachte, als über den Schuss milchkaffeefarbenes Blut zu frohlocken, das dadurch in die Adern der Familie floss. Aber wie Chick nicht hatte wissen können, dass Adam sein Sohn war, war für Barbara Jean unmöglich nachzuvollziehen.
Chick sagte: »Ich konnte ihn nicht ansehen. Als ich zurückkam und hörte, dass du und Lester einen Sohn habt, konnte ich ihn nicht ansehen. Und dich auch nicht.« Seine Stimme fing an zu zittern, und er sagte noch einmal: »Ich hatte keine Ahnung.«
Da wusste sie, dass sie einfach nach Hause gehen sollte. Sie wusste, dass Worte es nur noch schlimmer machen würden. Aber Barbara Jean konnte sich nicht zurückhalten, Chick die Wahrheit zu sagen. Genauso wie sie sich nicht hatte verkneifen können, ihm ihre Lebensgeschichte anzuvertrauen, damals auf dem Gang des All-You-Can-Eat , als ihr zum ersten Mal klarwurde, dass sie ihn liebte.
»Ich habe Lester geheiratet, weil du abgehauen bist, und ich für mich und mein Kind sorgen musste.
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