Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
abzuringen, von denen sie glaubte, dass sie sie besäßen. Am Ende brachte es ihr nichts Gutes.
Auf Socken schlich Barbara Jean über den Flur im ersten Stock ihres Hauses. Sie ging auf Zehenspitzen an dem Zimmer vorbei, das sie mit Lester teilte. Dann ließ sie auch die Gästezimmer hinter sich. Adams Zimmer übte einen Sog aus, als strecke es die Arme aus, um sie an sich zu ziehen. Sie machte die Tür auf und starrte hinein, schaute zu den vertrauten, niedrigen Regalen voller veraltetem Spielzeug, dem kleinen Tisch, überhäuft mit verstreuten, ausgeblichenen Buntstiftzeichnungen, dem Miniaturstuhl, über dessen Lehne immer noch ein blassgrüner Pulli hing, als würde sein Besitzer jeden Augenblick hereingestürmt kommen, um ihn zu holen. Überall wo sie hinschaute, sah sie Dinge, von denen sie ihren Freundinnen geschworen hatte, sie hätte sie schon vor Jahrzehnten weggeworfen oder verschenkt. Sie wusste, sie sollte besser nicht in dieses Zimmer gehen; es tat ihr nicht gut. Aber ihr Schritt war noch immer ein wenig unsicher vom Wodka. Und sie tröstete sich mit dem Wissen, dass sie sich am Morgen vermutlich nicht mehr an den Schmerz in ihrer Seele und das Brennen in ihrem Kopf, die sie immer wieder an diesen Ort trieben, würde erinnern können.
Barbara Jean trat über die Schwelle und machte die Tür hinter sich zu. Sie rollte sich auf dem kurzen Bett zusammen, neben sich Cowboys und Indianer, die in einer endlosen Verfolgung über die Bettdecke ritten. Sie schloss die Augen – nicht um zu schlafen, sagte sie sich –, nur um etwas auszuruhen und ihre Gedanken zu ordnen, bevor sie in eines der Gästezimmer gehen würde, für die wenigen verbleibenden Stunden der Nacht. Augenblicke später befand sich Barbara Jean wieder auf der matschigen Schotterpiste und klammerte sich am Arm ihres Mannes fest, während ihre schillernde Mutter über ihren Köpfen schwebte und ihnen zuflüsterte: »Er wartet.«
8
Big Earls Beerdigung fand in Clarices Kirche, der Calvary Baptist, statt. Er selbst war kein besonders großer Kirchgänger gewesen, aber die Familie seiner Schwiegertochter ging schon fast so viele Generationen lang in der Calvary zum Beten wie Clarices. Es schien die perfekte Wahl dafür zu sein, bis die Kirche anfing, sich zu füllen, und klar wurde, dass das Footballstadion der Universität wohl der einzige Ort in der Stadt gewesen wäre, an dem alle bequem Platz gefunden hätten.
Jede Kirchenbank war voller Trauergäste. Hunderte Leute, die keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten, füllten die äußeren Gänge und lehnten an den weiß verputzten Wänden. Kleine Menschentrauben, die sich nicht mehr in die Kirche hatten quetschen können, steckten die Köpfe durch die Seitentüren des Altarraums, verfolgten Reverend Petersons Predigt und nickten zusammen mit uns im Inneren der Kirche mit den Köpfen zur Musik.
Denise, Jimmy und Eric saßen in der Reihe hinter James und mir. Ohne dass wir sie darum hatten bitten müssen, waren unsere drei Kinder an diesem Morgen alle erschienen, um ihren Vater zu trösten. Und dem Mann die letzte Ehre zu erweisen, der der einzige Großvater war, den sie je wirklich gekannt hatten, denn mein Vater war bereits gestorben, als sie noch sehr klein waren. Sie waren von ihren jeweiligen Wohnorten in Illinois, Kalifornien und Washington nach Plainview gereist, um bei uns zu sein, und ich war glücklich und stolz, dass sie gekommen waren.
Obwohl die Glaubensauffassung der Calvary Baptist für meinen Geschmack etwas zu streng war, war ich dennoch froh, dass der Gottesdienst dort stattfand. Denn meiner Meinung nach war diese Kirche die schönste der Stadt. Die Calvary war bloß halb so groß wie die First-Baptist-Kirche, aber sie hatte zwölf Buntglasfenster, von denen jedes das Leben eines der Apostel zeigte. Die Fenster erstreckten sich vom Boden bis hinauf zur Gewölbedecke, und wenn die Sonne hindurchschien, fiel das Licht wie ein Regenbogen ins Kirchenschiff auf ein Wandgemälde der Kreuzigung hinter dem Taufbecken.
Den Glanzpunkt des Wandgemäldes bildete das wohl schärfste Bild von Jesus, das man je gesehen hatte. Er hatte hohe Wangenknochen und lockiges, schwarzes Haar. Seine gebräunten, ausgebreiteten Arme strotzten vor Muskeln, und er besaß den festen Bauch eines brasilianischen Unterwäschemodels. Sein Mund schien der Gemeinde Küsse zuzuwerfen, und seine Dornenkrone saß leicht schräg, so dass er die Coolness eines Frank Sinatras ausstrahlte. Alles in allem fragte man sich
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