Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
derselben Straße, der matschigen Schotterpiste, die einst die westliche Begrenzung von Leaning Tree dargestellt hatte. Sie war schon vor Jahren asphaltiert worden, zumindest hatte Barbara Jean das gehört. Sie war ewig nicht mehr dort gewesen. Sie träumte auch immer von demselben winkenden Jungen, ihrem verlorenen Adam. Auch die schwebende Frau veränderte sich nie. Es war stets ihre Mutter.
Barbara Jean erwachte mit schmerzendem Rücken aus ihrem Traum, da sie auf einem der beiden Chippendale-Sessel gekauert hatte, die vor dem Kamin in der Bibliothek ihres Hauses standen. Die Sessel waren – ein fürchterlicher Aufwand – neu aufgepolstert worden, mit burgunderfarbenem Knautschsamt, verziert mit einem Lilienmuster, das zu den handgemalten Tapeten der Bibliothek passte. Jedes Frühjahr beim Tag der offenen Häuser in Plainview machten die Leute ein großes Tamtam um diese beiden Sessel, und Barbara Jean liebte sie. Aber für ihr Kreuz waren sie, wenn sie zu lang darin saß, einfach die Hölle.
Barbara Jeans und Lesters Haus stand an der Kreuzung Plainview Avenue und Main Street. Es war ein dreistöckiger Koloss im Queen-Anne-Stil mit einem Eckturm an der nordöstlichen Seite und sechs verschiedenen Portalen. Es hatte früher einmal den Namen Ballard House bekommen, und die Einwohner von Plainview, die über fünfzig waren, nannten es noch immer so. Es war im Jahre 1870 von einem hiesigen Dieb namens Alfred Ballard erbaut worden, der während des Bürgerkriegs einige der besten Häuser im besiegten Süden geplündert hatte und als reicher Mann nach Plainview zurückgekehrt war. Doch den Nachkommen von Alfred Ballard fehlte sein Geschäftssinn und seine Skrupellosigkeit. Es gelang ihnen nicht, ihr Vermögen zu vergrößern, sie verprassten das Geld, das Ballard ihnen hinterlassen hatte, und verloren das Haus schließlich ans Finanzamt. 1969, nachdem er mit seiner Rasenpflegefirma nach Kentucky expandiert und einen Vertrag erhalten hatte, der ihm die Zuständigkeit für alle staatlichen Liegenschaften in der Nordhälfte des Bundesstaats übertrug, kaufte Lester Ballard House für seine junge Frau und ihren gemeinsamen Sohn, Adam. Damals war es eine ausgeweidete, heruntergekommene Katastrophe, und obwohl Barbara Jean das Haus liebte, hatte sie keine Ahnung, was zu tun war, um es wieder in Schuss zu bringen. Clarice dagegen war von ihrer Mutter in der Annahme erzogen worden, dass sie eines Tages einen vornehmen Haushalt führen würde. Also überließ Barbara Jean ihrer Freundin jede Entscheidung im Prozess der Renovierung. Sie sah tatenlos zu, wie Clarice die riesige Hülle eines Hauses in die Art Ausstellungsstätte verwandelte, in der Clarice gelebt hätte, wenn das Schicksal in Form eines rotsehenden, hundertfünfzig Kilo schweren Linebackers aus Wisconsin nicht eingeschritten wäre. Dieser hatte Richmond von einer potenziellen NF L -Legende in einen Anwerber an der Universität verwandelt, dessen ruhmreiche Footballtage längst hinter ihm lagen. Aus Respekt vor ihrer Freundin akzeptierte Clarice keinerlei Anerkennung für ihre viele Mühe. Stattdessen instruierte sie Barbara Jean geduldig und gab alles, was sie über Kunst, Antiquitäten und Architektur wusste, an sie weiter. Durch die praktische Erfahrung, die Barbara Jean bei der Renovierung ihres extravaganten, alten Hauses und durch Clarices Anleitung gewann, übertraf sie schließlich den Sachverstand ihrer Lehrmeisterin.
Als Barbara Jean von dem antiken Sessel aufstand, um ihren unteren Rücken zu dehnen, fiel ihre Bibel auf den Boden. Nachdem sie mit Lester zu Abend gegessen, seine Pillen abgezählt und ihn zu Bett gebracht hatte, konnte sie sich nur mehr verschwommen an den Abend erinnern. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, vor dem Einschlafen in der Bibel gelesen zu haben. Aber es leuchtete durchaus ein. Sie neigte dazu, das Heilige Buch hervorzuholen, wenn sie in düsterer Stimmung war, und in dieser Nacht hatten die Schatten sie wieder eingeholt, so viel war sicher.
Clarice hatte Barbara Jean diese Bibel 1977 geschenkt, kurz nachdem Adam gestorben war. Lester hatte es mit der Angst zu tun bekommen, als seine Frau aufgehört hatte zu sprechen und zu essen und sich schließlich sogar weigerte, Adams Zimmer zu verlassen. Also hatte er Odette und Clarice hinzugezogen. Sie machten sich sofort ans Werk, wobei beide ihrer Freundin jeweils das Heilmittel verabreichten, auf das sie am meisten vertrauten: Odette bemutterte sie, indem sie ihr köstlich
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