Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
sie mehr wie diese Bäume sein ließ.
Auch sie hatte ihr Bestes getan, sich mit den Umständen zu arrangieren. In den drei Monaten seit Lesters Tod hatte sie ihre Zeit so eingeteilt, dass sie fast jeden Tag mehr oder weniger ununterbrochen in Bewegung blieb. Und war es nicht auch das, was Witwen allgemeinhin tun sollten?
Aber nun, als sie diese krummen, alten Bäume betrachtete, musste Barbara Jean sich eingestehen, dass sie es nicht geschafft hatte, weiter zu gedeihen. Ganz gleich wie sehr sie ihre Tage mit Aktivitäten füllte, es waren die Nächte, die sie bestimmten. An diesem Abend betrat sie ihr vornehmes Haus und hörte die Stimme ihrer Mutter, die ihr schlechte Ratschläge und giftige Anschuldigungen ins Ohr flüsterte. Und nachdem es ihr schließlich gelungen war, Schlaf zu finden, war sie schon nach einer Stunde wieder hellwach, weil sie sich einbildete, gespürt zu haben, wie Lester sich neben ihr im Bett umdrehte und dann seinen angestauten Husten vom Bad aus hörte. Hatte er etwa schon wieder eine Lungenentzündung?
Sie stieg aus dem Bett und tigerte durch ihr dreistöckiges Haus, in der Hoffnung, dadurch Ruhe zu finden. Aber es klappte nicht; es klappte nie. Adam erfüllte jetzt jeden Winkel, so als wäre er noch am Leben. Sie hörte ihn im oberen Stockwerk von Zimmer zu Zimmer rennen, dort wo früher Lesters Büro gewesen war, bevor das Treppensteigen zu viel für ihn wurde. In dieser Nacht spielte Adam dort oben, genauso wie er es vor dreißig Jahren getan hatte. Die vollgestopften Abstellräume und das Labyrinth aus Aktenschränken stellten keine Bedrohung für einen abenteuerlustigen Jungen, der sich niemals fürchtete, dar. Selbst dann nicht, wenn er es besser sollte. Das Geräusch von Adam, der im Fernsehzimmer gegenüber der Küche vor sich hin summte, während er seine Sammlung von Schuhen putzte, in die er so vernarrt war, klang durchs Erdgeschoss. Sie erblickte ihn am Klavier im Wohnzimmer, wo er auf seine Tante Clarice wartete, die ihm Unterricht gab. Das Museum, zu dem sein Zimmer geworden war, schien das gesamte erste Stockwerk übernommen zu haben. All die anderen Zimmer waren zu Vorzimmern verkommen, die sie bloß in das eine Zimmer führten, das zählte.
Nur die Bibliothek, in der sie die Flasche und das heilige Buch erwarteten, war ein Zufluchtsort vor den Geistern, die sie ständig heimsuchten. Und selbst dieses Zimmer bot ihr keinen Schutz mehr, sobald sie auf dem Chippendale-Sessel in einen betrunkenen, erschöpften Schlaf sank. Sobald sie einnickte, kehrten sie zurück: Loretta, Lester, Adam und jetzt auch noch Chick.
Zu Beginn ihres Abschlussjahres an der Highschool hatte Barbara Jean die meiste Zeit mit Clarice und Odette verbracht. Sie hingen jeden Tag nach der Schule bei einer von ihnen zu Hause rum, machten Hausaufgaben, hörten Musik und quatschten bis mindestens acht Uhr abends. So konnte sie sich, wenn sie nach Hause kam, an Vondell vorbeischleichen, der bis dahin ziemlich sicher bereits auf der Couch eingeschlafen war. An den Wochenenden, wenn es schwieriger war, Vondell aus dem Weg zu gehen, arbeitete sie in einem Friseursalon, der einer alten Freundin ihrer Mutter gehörte, und übernachtete bei Odette.
Barbara Jean blieb nie über Nacht bei Clarice. Mrs Jordan gab sich immer Mühe, besonders höflich und nett zu Barbara Jean zu sein, aber sie konnte es nicht zulassen, dass die Tochter von Loretta Perdue eine ganze Nacht in ihrem Haus verbrachte. Anfangs war Barbara Jean überrascht, dass Clarices Mutter sie überhaupt über die Schwelle ließ, denn Mrs Jordan war weithin dafür bekannt, zu gleichen Teilen bigott und hochnäsig zu sein. Aber sie begrüßte Barbara Jeans Besuche sogar. Als Barbara Jean die Funktionsweise von Mr und Mrs Jordans Ehe besser verstand, kam sie zu dem Schluss, dass Mrs Jordans Freundlichkeit wohl aus der Erleichterung resultierte, dass wenigstens einer der Bastarde der Stadt überhaupt nicht so aussah wie ihr eigener Mann.
Es war Samstagabend. Die drei Mädels waren bei Clarice zu Hause und hörten Musik, als das Telefon klingelte. Mrs Jordan rief die Treppe hinauf nach Clarice und sagte, dass ihre Cousine Veronica in der Leitung sei. Odette und Barbara Jean gingen mit Clarice hinunter in die Küche, wo das Telefon stand, und beobachteten sie dabei, wie sie ihrer Cousine lauschte. Sie sagte kaum etwas, schüttelte bloß den Kopf und japste: »Nein«, und »Du machst Witze«. Als sie aufgelegt hatte, drehte sie sich zu Odette und Barbara
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