Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Jean um und sagte: »Veronica meint, da arbeitet jetzt ein weißer Junge in Earl’s Diner .«
Damals verirrten sich keine Weißen ins All-You-Can-Eat , und noch nie hatte man von einer weißen Person gehört, noch nicht einmal von einem Teenager, der je für einen Schwarzen gearbeitet hätte. Also waren das bedeutende Neuigkeiten. Fünf Minuten nachdem Clarice aufgelegt hatte, waren die Supremes bereits auf dem Weg zum Diner.
Als sie dort ankamen, fanden sie den größten Andrang vor, den sie an einem Samstagabend je erlebt hatten. Jeder Tisch war voll besetzt, außer dem Fenstertisch, der an den Wochenenden nun immer für sie reserviert war. Sie mussten sich durch die Menge drängen, um an ihren Platz zu gelangen. Mit Clarices Musikpreisen, Richmond, der der lokale Footballheld war, und Barbara Jean, die so aussah wie sie aussah, war der Fenstertisch normalerweise das Zentrum des Geschehens. Aber an diesem Abend schaute niemand in ihre Richtung. Alle waren gekommen, um den weißen Jungen zu sehen.
Als er mit Big Earl aus der Küche trat, verstummte die Menge. Alles, was noch zu hören war, war ein gelegentliches Flüstern und die Stimme von Diana Ross, die aus der Jukebox »Reflections« gurrte.
Der weiße Junge enttäuschte nicht. Er war groß und dünn mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Seine Haut war so bleich, als wäre er seit Jahren nicht mehr in der Sonne gewesen. Sein Haar war schwarz wie Schuhcreme und irgendwo zwischen wellig und lockig. Seine markanten Wangenknochen und die römische Nase erinnerten Barbara Jean an die Gesichter der Statuen, die sie aus den Kunstbüchern in der Schule kannte. Seine runden Augen waren eisblau. Später erinnerte sich Barbara Jean daran, dass sie diese Augen gesehen und gedacht hatte: So muss der Himmel aussehen, wenn man ihn durch einen Diamanten betrachtet. Er folgte Big Earl von Tisch zu Tisch, räumte Geschirr ab und wischte Verschüttetes auf. Die ganze Zeit über gab keiner im Restaurant einen Laut von sich. Sie starrten ihn bloß an.
Es war Odette, die sich niemals scheute zu sagen, was sie dachte, die das Schweigen brach. »Das«, sagte sie, »ist aber mal ein hübscher weißer Junge.« Barbara Jean kicherte, aber sie fand, dass es stimmte. Es erschien ihr völlig plausibel, dass, wenn sie ihn nur lange genug anschaute, eine juwelenbesetzte Krone auf seinem Kopf erscheinen würde. Vielleicht sogar begleitet von einer Trompetenfanfare wie in der Margarinewerbung im Fernsehen.
Als Big Earl begleitet vom König der hübschen weißen Jungs an den Fenstertisch kam, sagte er: »Hallo, die Damen, darf ich euch Ray Carlson vorstellen. Er wird von jetzt an hier arbeiten.«
Der Junge murmelte: »Hi«, und wischte einmal über den Tisch, obwohl er sauber war.
Die Supremes wollten ihn gerade begrüßen, als Ramsey Abrams, der Big Earls Vorstellung mit angehört hatte, von ein paar Tischen Entfernung herüberrief: »Bist du verwandt mit Desmond Carlson?« Und es wurde wieder still im Raum.
Desmond Carlson und ein paar andere Hinterwäldler waren der Grund dafür, dass Schwarze nördlich von Leaning Tree nicht unbehelligt die Straße entlanggehen konnten. Desmond und seine Bande fuhren mit ihren Pick-ups über das nördliche Ende der Wall Road, auf dem Weg von ihren Häusern ins Stadtzentrum und weiter zu den Bars im Hinterland, die außerhalb von Plainview die Landschaft übersäten. Arm, ungebildet und konfrontiert mit einer Welt, die sich auf eine Weise wandelte, die sie nicht verstehen konnten, waren Desmond und seine Kumpels immer bloß ein oder zwei Whiskeys davon entfernt, irgendeine Dummheit zu machen oder gewalttätig zu werden. Sie hatten die Angewohnheit, aus ihren Autos heraus jedem mit dunkler Haut, den sie auf »ihrem« Abschnitt der Straße antrafen, Beleidigungen oder Flaschen entgegenzuschleudern.
Seine Freunde begnügten sich damit, nachts Ärger zu machen. Doch wenn Desmond, egal zu welcher Tageszeit, einen Einwohner von Leaning Tree auf der Wall Road antraf, brüllte er: »Verschwinde von meiner Scheißstraße, Neger!« oder irgendeinen anderen Kommentar, der seinen Standpunkt klarmachte. Dann lenkte er lachend seinen Pick-up auf jeden, der seine Straße unerlaubt betreten hatte, so dass dieser in den Straßengraben hechten musste, um nicht vom Auto erfasst zu werden.
Die halbe Stadt hatte eine Todesangst vor Desmond, der immer betrunken war, immer wütend und – man munkelte – auch immer bewaffnet. Die Polizei von Plainview zählte auch
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