Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Höhepunkt von Veronicas Vorstellung, einer Bühnenbearbeitung von Christus’ Himmelfahrt, war ruiniert, als sich die Seilwinde, die Reverend Briggs eigentlich in die Dachsparren befördern sollte, in zehn Metern Höhe verhakte. Die Feuerwehr brauchte Stunden, um ihn wieder herunterzubekommen. Und das Schlimmste war, dass niemand einen Zweifel hegte, dass die Lutheraner alles über dieses Debakel erfahren würden.
Veronica schob das Glas Eistee, das sie nicht angerührt hatte, seit es Erma Mae gebracht hatte, ein Stückchen vor, damit sie ihren Ellenbogen auf dem Tisch abstützen konnte, als sie Odette den Rücken zuwandte. An Clarice gerichtet sagte sie: »Ich dachte, du könntest morgen vielleicht mitkommen und einen Blick auf die Einladungskarten und die Stoffmuster für die Kleider der Mädchen werfen.«
Clarice wollte keine Minute mehr als nötig mit Veronica verbringen. Die Feiertage standen kurz bevor, und da konnte sie ihr auf Familienfeiern ohnehin schon bald nicht mehr aus dem Weg gehen. Aber sie hatte auch das ungute Gefühl, dass dies ein kleiner Vorgeschmack auf die ausgleichende Gerechtigkeit war, die ihr blühte. Sie selbst hatte Odettes Rat gesucht, als sie bei den Vorbereitungen zu Carolyns Hochzeit half. Und anfangs hatte sie Odettes Hilfe auch ganz aufrichtig dankbar in Anspruch genommen. Denises Hochzeitszeremonie, bei deren Planung Odette geholfen hatte, war wunderschön gewesen. Aber als Clarice erst einmal in Fahrt kam, konnte sie sich nicht mehr zügeln, jedes Detail von Denises Hochzeit demonstrativ zu übertreffen. Nun fragte Veronica sie um Rat, und Clarice hatte keinen Zweifel, dass ihre Cousine alles, was Clarice für Carolyns Eheschließung getan hatte, überbieten würde.
Clarice wurde wieder einmal daran erinnert, was sie an Veronica am unerträglichsten fand. Ihre Cousine hatte die schreckliche Art, sie mit der Nase auf ihre eigenen schlimmsten Züge zu stoßen, wenn sie sie eigentlich nicht sehen wollte. Immer wenn Clarice in Veronicas Nähe war, musste sie sich eingestehen, dass sie in dieser sich selbst wiedererkannte. Es machte ihr ein wenig Angst, wenn sie daran dachte, dass der Hauptunterschied zwischen ihnen beiden lediglich in dem mäßigenden Einfluss von Odette und Barbara Jean lag.
Dank Odettes erneutem Eingreifen musste sie sich an diesem Nachmittag nicht dazu verpflichten, ihrer Cousine zu helfen. »Veronica«, sagte Odette, »ich denke, Sharon ist bereit für ihr weiteres Lauftraining.« Sie schauten hinaus und sahen, dass Sharon das Auto hinter sich gelassen hatte und mit erneuter Entschlossenheit die Straße hinunterlief.
Stolz sagte Veronica: »Man kann dieses Mädchen einfach nicht von ihrem Training abhalten. Anfangs hatte ich etwas Schwierigkeiten, sie von dem Programm zu überzeugen, aber jetzt ist sie ganz begeistert davon.«
Keine Sekunde später wich Sharon von ihrer Route ab und verschwand durch die Eingangstür der Donut-Heaven-Bakery.
Veronica murrte: »Dieses Kind …«, und wetzte wieder aus dem Restaurant. Sie sprang in ihr neues Auto und fuhr die paar Meter die Straße hinunter zum Donutladen. Sie stürmte hinein und zerrte Sekunden später Sharon mit sich hinaus. Als ihre Mutter sie ins Auto bugsierte, drückte Sharon eine der pinken Donut-Heaven-Schachteln an ihre Brust, als wäre es ein Neugeborenes.
Odette wischte den letzten Rest Sauce mit einem Stück Weißbrot von ihrem Teller und sagte: »Diese Frau verdirbt mir wirklich den Appetit.« Dann nagte sie beherzt die Reste vom Ende eines Schweinekotelettknochens.
An diesem Tag verließen sie das Diner früher als gewöhnlich, wobei sich alle auf ihre Müdigkeit beriefen. Den restlichen Abend lang dachte Clarice über Minnies Vision nach. Nicht, dass sie plötzlich zu einer ihrer Anhängerinnen wurde. Sie wusste, dass es keine übersinnlichen Fähigkeiten brauchte, um sich Richmond mit einer anderen Frau vorzustellen. Zur Hölle, dazu musste man nicht mal gute Augen haben. Aber was ihr Gedanken machte, war, wie seltsam es doch war, dass es kaum mehr etwas in ihr auslöste, wenn diese unangenehme Frau ihr Richmonds Verhalten in aller Öffentlichkeit unter die Nase rieb. Wenn so ein Vorfall einige Monate zuvor stattgefunden hätte, wäre sie tagelang nicht in der Lage gewesen, das Bett zu verlassen. Aber selbst in dem Moment, als es passierte, war die einzige Empfindung, die Clarice wahrnahm, der drängende Wunsch allein zu sein, nur sie und ihr Klavier.
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Nachdem Lesters Geschäft verkauft
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