Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
und alle Geldfragen geregelt worden waren, beschloss Barbara Jean, dass sie irgendeine regelmäßige Beschäftigung brauchte, um Struktur in ihre Tage zu bringen. Also nahm sie einen Job an. Dann nahm sie noch einen Job an. Und noch einen. Alle drei waren ehrenamtliche Tätigkeiten, trotzdem war es das erste Mal, dass sie sich nach Arbeitszeiten richten musste, seit sie als Teenager in einem Friseursalon Nägel lackiert und Shampoo einmassiert hatte. Montags und mittwochs brachte sie Blumen zu den Patienten im Universitätskrankenhaus. Aus Rücksicht auf ihren kürzlichen Verlust teilte sie die Koordinatorin des Freiwilligendienstes auf der Entbindungsstation ein, wo sie hauptsächlich glücklichen jungen Eltern begegnete und nicht mit den unheilbar Kranken konfrontiert wurde. Aber das spielte eigentlich keine Rolle. Selbst wenn sie ihr den Tod direkt auf die Nase gebunden hätten, hätte Barbara Jean nicht mal mit der Wimper gezuckt. Mit Hilfe eines gelegentlichen Schlucks aus ihrer Thermoskanne voll Tee mit Schuss, die sie immer bei sich trug – es wäre nicht so praktisch gewesen, ihre kleinen Espressotässchen von zu Hause mitzubringen –, stellte sie den Teil von sich, der trauerte, einfach ab. Und sie hatte nicht vor, ihn wieder anzustellen.
Jeden Freitagmorgen ging Barbara Jean in die First-Baptist-Kirche und erledigte Bürokram. Sie nahm Anrufe entgegen, machte die Ablage und kopierte, all die Dinge, die sie in der Anfangszeit einst auch für Lesters Firma übernommen hatte. Wenn das Pfarrbüro schloss, ging sie nach unten in die kircheneigene Schule und gab Bibelkurse für die neuen Mitglieder. Selbst der Pastor, Reverend Briggs, war beeindruckt von Barbara Jeans Bibelwissen. Wenigstens, dachte sie, waren all die Nächte, die sie betrunken mit der Bibel, die Clarice ihr damals geschenkt hatte, in der Bibliothek verbrachte, nun doch noch zu etwas nutze.
Dienstags, donnerstags und samstags arbeitete sie im örtlichen historischen Museum. Es bestand aus einem Eingangsbereich und drei kleinen Ausstellungsräumen, von denen jeder einem Abschnitt der Geschichte von Plainview gewidmet war – der Zeit als es noch Indianergebiet war, dem Bürgerkrieg und der jüngsten Vergangenheit. Das Museum befand sich zwanzig Minuten Fußmarsch die Plainview Avenue hinunter von ihrem Haus entfernt. In erster Linie bestand ihre Aufgabe darin, am Empfangsschalter im Eingangsbereich zu sitzen, Broschüren auszuhändigen und zu sagen: »Bitte warten Sie unter der Staatsflagge von Indiana, die dem Museum großzügigerweise von den Nachfahren des berühmten Einwohners von Indiana, Präsident Benjamin Harrison, überlassen wurde. Ein Museumsführer wird sich umgehend Ihrer annehmen.«
Manchmal wurde sie auch gebeten, das Kostüm einer Siedlerfrau anzulegen und so zu tun, als würde sie Butter machen oder imaginäres Essen in einem Plastikkessel über einem Pappmachéfeuer umrühren, wenn die Dame, die üblicherweise die Siedlerin mimte, verhindert war. Wenn keine Besucher im Museum waren, wie es eigentlich die meiste Zeit der Fall war, saß sie herum, nippte an ihrer Thermoskanne und las Modemagazine.
Oft gab es Tage, an denen die beiden Sätze, die die Museumsgäste auf ihre Warteposition unter der Flagge lenkten, die einzigen Worte waren, die ihr über die Lippen kamen. Diese Tage waren ihr am liebsten. Zwei- oder dreimal pro Woche traf sie sich mit den anderen Supremes, und das war alles an Unterhaltung, zu dem sie sich in der Lage fühlte.
Auf dem Nachhauseweg vom Museum folgte sie der Plainview Avenue, die hinauf ins Stadtzentrum führte und zur Kreuzung von Plainview Avenue und Main Street, wo ihr Haus stand. Wenn sie ihren Kopf nach links drehte und den Hügel hinunter schaute, hatte sie einen perfekten Blick auf die Überreste von Ballards Mauer und den Eingang zu Leaning Tree Estates, wie die neue Siedlung, die einmal ihr Stadtviertel gewesen war, heute hieß.
Eines Tages Anfang November, als sie das Museum verließ und sich auf den Nachhauseweg machte, blickte sie mal wieder hinunter nach Leaning Tree. Die hohen, verrenkten Bäume ihrer alten Umgebung verliehen der Landschaft, jetzt da sie ihr Laub abgeworfen hatten, eine noch dramatischere Wirkung. Sie starrte auf ihre buckligen Skelette. In diesem Moment erschienen sie ihr eindrucksvoller als jemals zuvor. Diese Bäume waren allesamt, trotz der schweren Kränkungen, die man ihnen zugefügt hatte, gediehen. Wenn sie Gott um etwas hätte bitten wollen, dann, dass er
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