Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Gruppe nach den jungen Gesichtern ihrer Freunde gesucht hatte. Der Anblick eines gemischtrassigen Paares, das am Samstagabend Hand in Hand die Plainview Avenue entlangschlenderte, ließ sie beinahe hysterisch werden, weil sie reflexartig Angst um deren Sicherheit hatte. Eine Bedrohung, die es schon seit Jahren nicht mehr gab. Jede Erinnerung, die durch solche Begebenheiten ausgelöst wurde, ließ sie zur Flasche greifen, zum Flachmann oder zur Thermoskanne voll Tee mit Schuss. Die schönen Erinnerungen lasteten genauso schwer auf ihr wie die schlechten, und alle verlangten danach, hinuntergespült zu werden, obwohl manche dieser Erinnerungen wirklich wundervoll waren.
Nachdem Barbara Jean Chick im Gang im hinteren Bereich des All-You-Can-Eat geküsst hatte, verfiel sie in ein Muster. Jeden Abend wartete sie, bis Big Earl, Miss Thelma und Little Earl schliefen, und schaute dann durch ihr Zimmerfenster, um zu sehen, ob in der Vorratskammer des Restaurants auf der anderen Straßenseite noch Licht brannte. Wenn dem so war, schlüpfte sie aus dem Haus und besuchte Chick.
Sie saßen auf seinem Bett, umgeben von Zwei-Liter-Konserven grüner Bohnen und Mais, und redeten, bis einer von ihnen, oder beide, ihre Augen nicht länger aufhalten konnten. Wenn sie sich nicht unterhielten, küssten sie sich – anfangs war es nichts weiter als Küssen. Und jede Sekunde war himmlisch.
Wenn sie sich nicht in der Vorratskammer treffen konnten, huschten sie hinüber in den Garten hinter Odettes Haus und schlüpften zusammen in die Abgeschiedenheit der weinberankten Gartenlaube von Odettes Mutter. Auf Barbara Jeans Drängen hin gingen sie auch ein paarmal über schwach beleuchtete Straßen zum Haus seines brutalen Bruders. Sie schlichen sich in den Schuppen, wo Chick mit den Hühnern gehaust hatte, und küssten sich leidenschaftlich auf seinem alten, von Federn bedeckten Klappbett. Es war wie eine rituelle Reinigung, und die Gefahr der Situation machte es nur umso unwiderstehlicher.
Chick hatte damals die Highschool bereits seit einem Jahr beendet und dachte darüber nach, aufs College zu gehen, hauptsächlich deshalb, weil Big Earl ihm immer wieder sagte, er sei zu klug, um es nicht zu tun. Zu Barbara Jean sagte Big Earl das Gleiche.
Ihr gefiel die Vorstellung, aufs College zu gehen, aber sie hatte keine Ahnung, was sie studieren sollte. Sie hatte keine Leidenschaft wie Clarice das Klavierspielen. Sie hatte passable Noten, und sie ging eigentlich recht gern zur Schule. Aber schon als Kind hatte ihr Loretta eingehämmert, dass sie einmal einen reichen Mann heiraten würde. Und das erforderte eine eigene Art der Vorbereitung, für die man nicht aufs College zu gehen brauchte.
Barbara Jeans Mutter brachte ihrer Tochter bei, sich auf eine Weise anzuziehen, die sie glamourös fand – und dazu zählte alles, was glänzte oder offenherzig war. Um sicherzugehen, dass Barbara Jean wie eine vornehme Frau sprach, verpasste ihre Mutter ihr Gürtelhiebe, wenn sie so nuschelte wie Loretta selbst. Barbara Jean und ihre Mutter wurden Mitglieder der First-Baptist-Kirchengemeinde, weil dorthin auch die reichsten und hellhäutigsten Farbigen gingen. Ihre Mutter wog sie jede Woche, um sicherzustellen, dass ihr Gewicht sich immer in einem Bereich befand, der den Männern gefiel – etwas, das sie und Clarice gemeinsam hatten, wie Barbara Jean später feststellte.
Barbara Jean amüsierte es, dass sich Lorettas Lektionen fürs Leben, als sie schließlich einen reichen Mann fand, als komplett unbrauchbar erwiesen. Denn alles, was dann zählte, war, dass sie die Hautfarbenprüfung seiner Familie bestand. Als sie Lesters Mutter vorgestellt wurde, hielt die alte Frau Barbara Jean eine braune Papiertüte an die Wange, und als sie feststellte, dass sie im Vergleich einen Hauch heller war, sagte sie: »Willkommen in der Familie.«
Doch im Winter ihres letzten Schuljahrs dachte Barbara Jean weder an ihre Ausbildung noch daran, reich zu heiraten oder sonst etwas. Sie war bis über beide Ohren verknallt in einen weißen Jungen, der ärmer war als jeder, den sie sonst kannte. Loretta musste sich im Grabe umgedreht haben.
Selbst als ihre Gefühle für Chick tiefer wurden, traf sich Barbara Jean auch oft mit Lester. Sie war zu naiv und durch ihre Empfindungen für Chick zu blind, um zu merken, dass die Stunden, die sie mit Lester verbrachte, auch eine Art von Rendezvous waren. Er tauchte oft zusammen mit James im All-You-Can-Eat auf und saß mit Barbara Jean und
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