Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Neuestem habe ich mir angewöhnt, mitten in der Nacht Beethoven zu üben, wenn ich nicht schlafen kann.«
Beatrice nippte wieder an ihrem Tee und sagte: »Weißt du, ich fand es immer furchtbar schade, dass du die Musik aufgegeben hast.«
Jetzt geht das wieder los, dachte Clarice. »Ich habe die Musik doch nicht aufgegeben, Mutter. Ich habe dutzende von Klavierschülern, und einige meiner ehemaligen Schüler geben heute sogar international Konzerte.«
Ihre Mutter tupfte sich die Lippen mit einer Serviette ab und sagte: »Das ist schön, nehme ich an. Aber was ich gemeint habe, war, dass es eine Schande ist, dass du nie mehr draus gemacht hast, nachdem du dich so vielversprechend gezeigt hattest. Du hast zum Beispiel nie die Aufnahmen gemacht, die dieser Typ im Sinn hatte, oder? Wie war sein Name doch gleich? Albert-irgendwas?«
»Albertson. Wendell Albertson.«
»Genau. Du hättest diese Aufnahmen wirklich machen sollen.«
Als Clarice im zweiten Studienjahr an der Universität war, gewann sie einen bedeutenden nationalen Wettbewerb. Wendell Albertson, der leitende Produzent beim damals führenden klassischen Musiklabel des Landes, war einer der Juroren. Nach dem Wettbewerb sprach er Clarice an, weil er Aufnahmen mit ihr machen wollte. Was ihm vorschwebte, war, dass sie im Laufe des kommenden Jahres alle Beethovensonaten einspielen würde. Er wollte sie als weiblichen Andre Watts vermarkten, als eine Leontyne Price des Klaviers. Aber kurz nach dem Wettbewerb verletzte sich Richmond, also wurden die Aufnahmen auf später verschoben. Dann verlobten sich Richmond und Clarice, und die Aufnahmen verzögerten sich wieder. Dann kamen die Kinder. Ihre Klavierlehrerin, Mrs Olavsky, hatte die Nachricht von Clarices erster Schwangerschaft mit einem Kopfschütteln quittiert und geschnaubt: »All die Jahre, vergeudet«, bevor sie Clarice die Tür vor der Nase zuschlug.
Clarice hatte damals nicht glauben wollen, dass es für sie vorbei war, aber die Zeit hatte ihrer Lehrerin recht gegeben. All die Jahre der Arbeit, sowohl ihrer als auch der von Mrs Olavsky, waren umsonst gewesen. Und obwohl sie sich bemühte es nicht zu tun, musste sie jedes Mal, wenn sie sich durch eine schlampige, schlecht ausgeführte Darbietung eines ihrer schwächeren Schüler quälen musste, an ihre eigene Karriere denken, die sie weggeworfen hatte. Und jedes Mal wenn sie erlebte, wie einer ihrer besonders begabten Schüler Plainview für ein hervorragendes Konservatorium den Rücken kehrte und sie über ihre verpassten Chancen nachgrübelnd zurückließ, trauerte sie diesem verlorenen Leben noch mehr nach.
Beatrice sagte: »Weißt du, ich frage mich oft, was wohl passiert wäre, wenn du diese Aufnahmen gemacht hättest.«
»Da habe ich schon jahrelang nicht mehr dran gedacht«, erwiderte Clarice. Das war bloß eine halbe Lüge, denn es hatte tatsächlich Jahre gegeben, besonders als die Kinder noch klein waren, in denen sie kaum einen Gedanken daran verschwendete, dass sie sich ihre große Chance hatte entgehen lassen. Aber jetzt spukte es ihr jede Nacht durch den Kopf, wenn sie wach war und Klavier spielte. Erst neulich, als sie durch die wütendsten Beethovenpassagen stürmte, ertappte sie sich bei der Frage, was wohl geworden wäre, wenn sie stärker oder mutiger gewesen wäre und Richmond verlassen hätte, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Aber dann gäbe es die Kinder nicht, und was wäre ihr Leben ohne sie gewesen? Sie rührte die Hafergrütze im Topf um und versuchte an die Weihnachtseinkäufe zu denken.
Das Telefon klingelte, und Clarice nahm die letzten Speckstreifen aus der Pfanne, bevor sie ging und abnahm. Nachdem sie Hallo gesagt hatte, hörte sie eine junge Frau fragen: »Könnte ich bitte mit Richmond sprechen?«
Clarice wollte ihn schon ans Telefon rufen, aber sie hörte im oberen Stockwerk das Wasser im Bad laufen, also sagte sie: »Tut mir leid, Richmond ist gerade nicht zu sprechen. Von wem darf ich ihm etwas ausrichten?«
Eine Pause trat ein, und dann sagte die Frau: »Ich wollte bloß mein heutiges Treffen mit ihm bestätigen.« Wieder eine Pause. »Mein Name ist Mrs Jones.«
Mrs Jones . Clarice verdrehte die Augen.
»Das werde ich ihm selbstverständlich ausrichten, Mrs Jones«, sagte Clarice. Sie legte auf und machte sich wieder daran, die bereits übergekochte Hafergrütze umzurühren.
Ihre Mutter war es schon wieder müde, Clarices verfehlte Musikkarriere zu diskutieren, und sie fing an, sich über ihre Nachbarin in
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