Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
ließ.
Durch das Fliegengitter hindurch sah Clarice, wie James sich daraufhin noch mehr Mühe gab, Odettes Haar zu frisieren. Sie hatte soeben die Hand gehoben, um anzuklopfen, als sie Odette kichern und sagen hörte: »Clarice wird sich vielleicht freuen, wenn ich eine Glatze habe. Seit wir in der achten Klasse waren, wollte sie, dass ich diesen Schlamassel auf meinem Kopf unter einer Perücke verstecke.«
Clarice wusste, dass Odette diese Bemerkung überhaupt nicht böse gemeint hatte. Sie wusste, dass Odette ihr dasselbe mit Freude und einem breiten Lächeln jederzeit auch direkt ins Gesicht gesagt hätte. Aber dieses Wissen half ihr in diesem Moment nicht. Am liebsten wäre sie hineingestürmt und hätte Odette zugerufen, dass sie sie liebte, so wie sie war – ob nun mit guten Haaren, mit schlechten Haaren oder ganz ohne Haare. Aber Clarice rührte sich nicht. Sie konnte nicht.
War es möglich, dass sie es zugelassen hatte, dass der Mensch, den sie auf der Welt am meisten liebte, glaubte, dass sie ihn nicht schön fand? Und Odette war ihr wirklich der liebste Mensch. Clarice liebte sie mehr, als sie Richmond liebte und – sie bat Gott bei dem Gedanken um Vergebung – genauso sehr wie ihre eigenen Kinder. Dinge, die Clarice über die Jahrzehnte gesagt hatte, klangen ihr in den Ohren und übertönten alle anderen Geräusche und Gedanken. »Mach was mit deiner Garderobe.« »Bring deine Haare in Ordnung.« »Komm, ich helf dir mit deinem Make-up.« »Wenn du nur zwanzig Pfund abnehmen könntest, hättest du so eine hübsche Figur.«
Eine Welle der Scham überkam sie mit solcher Wucht, dass sie die Fingerknöchel wieder vom Holzrahmen der Tür zurückzog und sich eilig von der Veranda entfernte. Sie hastete so schnell sie konnte zu ihrem Wagen und fuhr davon, auf dem Beifahrersitz die Einkaufstüte mit den beiden vorfrisierten Perücken, die nun bei der Heilsarmee landen würden.
Als Richmond ein paar Stunden später nach Hause kam, saß Clarice an ihrem Klavier und versuchte, nicht nachzudenken. Er überraschte sie mit der Ankündigung, er werde den Abend zu Hause verbringen, etwas, das er an einem Samstag schon seit Monaten nicht mehr getan hatte. Sie aßen zusammen zu Abend – Reste, da sie damit gerechnet hatte, alleine zu essen, und nichts vorbereitet hatte. Dann machten sie es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer unter einer Decke gemütlich und sahen sich einen Film an, den er aus der Videothek mitgebracht hatte. Später erinnerte sich Clarice nur daran, dass der Film vermutlich eine Komödie gewesen war. Denn sie behielt eine vage Erinnerung an Richmonds Lachen, bevor die Dinge eine andere Wendung nahmen.
Clarice konnte sich nicht genug auf den Film konzentrieren, um zu lachen oder zu weinen. Sie hing in Gedanken noch immer ihrem Besuch bei Odette und James nach. Sie betrachtete ihren attraktiven Mann und fragte sich: Würdest du das für mich machen? Würdest du mir die Haare machen, wenn ich zu krank wäre, die Arme zu heben und es selbst zu tun?
Die Antwort, zu der sie kam, war ein entschiedenes Ja.
Ja, Richmond würde ihr Haar frisieren, wenn sie krank wäre. Er würde es für sie tun, und er würde es ohne Klagen tun. Und wahrscheinlich würde er es sogar gut machen. Seine großen, schönen Hände waren in der Lage, alles zu tun, was er damit zu tun gedachte.
Aber sie wusste auch, dass eines Tages, wenn Richmond ihr das Haar kämmte, das Telefon klingeln und er aufstehen würde, um den Anruf entgegenzunehmen. Nachdem er aufgelegt hätte, würde er mit einer bereits zurechtgelegten Lüge auf den Lippen wieder zu ihr kommen und ihr erklären, warum er noch einmal kurz weg müsse. Sie würde mit halb frisierten Haaren lächelnd in ihrem Krankenbett sitzen und so tun, als würde sie ihm seine Lüge abnehmen, während er bereits aus der Tür rennen würde. Mit etwas Glück wäre kein Spiegel im Zimmer, in dem sie womöglich einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen könnte, das sich zu einer Nachahmung des wunderbar zärtlichen Ausdrucks verzogen hätte, der sich so natürlich auf Odettes Gesicht legte, wenn sie James ansah. Diese Vorstellung hatte Clarice im Kopf, als sie vom Sofa aufstand, zum Fernseher hinüberging und ihn ausschaltete.
Richmond protestierte: »Hey, was machst du denn da?« Er nahm die Fernbedienung von seinem Schoß und richtete sie auf das Fernsehgerät. Aber Clarice stand im Weg, und der Apparat reagierte nicht.
Als sie sich nicht vom Fleck rührte, fragte er: »Was ist denn
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