Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
sagte, dass sie noch darüber nachdenken müsse. Clarice hielt ihr entgegen: »Lester ist ein netter Kerl, und er hat ziemlich viel Geld. Er ist vielleicht ein wenig klein geraten, aber gut aussehend. Ich versteh nicht, was dich noch zurückhält. Oder verstehst du das, Odette?«
Da sagte es Odette, so beiläufig wie nur möglich. »Tja, Barbara Jean ist nun mal verliebt in Chick.«
Clarice rief: »Chick? Wovon redest du?«
»Sie sind schon seit Monaten zusammen. Hast du keine Augen im Kopf, Clarice?«
Barbara Jean starrte Odette an. Das, was ihre Freundin soeben gesagt hatte, hatte sie aus der Ruhe gebracht. Verliebt in James zu sein, schien Odette mit einem besonderen Gespür für die Gefühle anderer Leute ausgestattet zu haben, über das sie zuvor nicht verfügt hatte. Diese neue, schärfere Beobachtungsgabe, kombiniert mit Odettes Tendenz dazu, immer zu sagen, was sie dachte, machte sie fast ein bisschen unheimlich. Abgesehen davon, dass sie sowieso eine ganz schöne Nervensäge sein konnte.
Clarice wandte sich an Barbara Jean und fragte: »Ist das wahr?«
Barbara Jean wollte schon lügen, aber dann sah sie Odettes Gesicht. Ihre Freundin richtete ihren offenen Blick voll Akzeptanz auf Barbara Jean, und da sprudelte die Wahrheit einfach aus ihr heraus. Barbara Jean erzählte vom ersten Mal, als sie Chick geküsst hatte. Sie erzählte ihnen auch von den Nächten in der Vorratskammer. Sie wiederholte das, was Chick darüber gesagt hatte, nach Chicago oder Detroit zu gehen, weil Paare wie sie dort keine große Sache waren und sogar heiraten konnten.
»Du solltest das mit Big Earl besprechen und sehen, was er dazu zu sagen hat«, sagte Odette.
»Das kann ich nicht. Was soll ich ihm denn sagen? Hör mal, Big Earl, ich hab mich aus dem Haus geschlichen, in dem du mich so großzügig aufgenommen hast, und bin heimlich rübergegangen in deine Vorratskammer, um dort mit deinem weißen Hilfskellner zu vögeln . Ich kann nicht zulassen, dass er so von mir denkt. Ich kann nicht zulassen, dass er denkt, ich sei wie …«
Barbara Jean sprach nicht weiter, aber Clarice und Odette wussten beide, wie der Satz endete.
Clarice hatte sich immer für diejenige von den dreien gehalten, die am praktischsten veranlagt war. Sie sagte: »Chick ist süß. Und er sieht gut aus. Aber er hat weder Geld noch irgendwelche Aussichten, soweit ich sehen kann. Außerdem wäre da noch sein Bruder.«
Sie hatten alle beobachten können, wie Desmond Carlson die letzten Monate über mindestens einmal pro Woche in seinem roten Truck langsam an Earl’s Diner vorbeigefahren war. Er kam nie ins Restaurant, um dort Ärger zu machen; so etwas hätte Big Earl niemals geduldet, und Desmond wusste das. Aber wenn er seinen Bruder erblickte, während er vorbeifuhr, machte er obszöne Gesten und forderte ihn auf, herauszukommen und sich mit ihm zu prügeln, bevor er schließlich aufgab und wieder davonbrauste.
Clarice sagte: »Dieser durchgeknallte Bauerntrampel von einem Bruder wird euch ausfindig machen und umbringen, selbst wenn ihr es bis nach Chicago oder Detroit schaffen solltet.«
Barbara Jean erwiderte darauf nichts, denn die Wahrheit lag auf der Hand. Und es war nicht bloß Desmond Carlson. Es gab viele in Plainview, ob schwarz oder weiß, die Chick und Barbara Jean lieber tot sehen würden als zusammen. So waren die Dinge eben.
Als sich das Schweigen noch eine Weile länger hinzog, nahm Clarice an, die Debatte sei beendet, und dass Barbara Jean eingesehen hatte, dass sie recht hatte. Sie fing wieder an, ein riesiges Spektakel von einer Hochzeit für Barbara Jean zu planen. Clarice machte während der ganzen Fahrt von Odettes Haus damit weiter und hörte nicht auf, bis Barbara Jean vor Big Earls Haus aus dem Auto sprang.
In ihrem Herzen wusste Barbara Jean, dass Clarice recht hatte; es gab nur eine Entscheidung, die vernünftig war. Aber das traumhafte Bild, das Clarice von einem handbestickten Hochzeitskleid mit einer drei Meter langen Spitzenschleppe zeichnete, wetteiferte mit einer noch kostbareren Idee in Barbara Jeans Kopf, nämlich der Vorstellung von dem, was sie wirklich wollte.
In späteren Jahren malte sich Barbara Jean oft aus, was wohl passiert wäre, wenn sie, als sie jung war, mehr wie Odette gewesen wäre. Vielleicht, wenn sie damals nur mehr Courage gehabt hätte, hätte sie die Vernunft zum Teufel gejagt und wäre geradewegs der süßen Verheißung eines Lebens mit Chick in Detroit oder Chicago oder sonst wo nachgejagt.
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