Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
zu heiraten? Glaubst du nicht eher, dass er dich jagen und übler zurichten wird, als er es je getan hat? Egal wohin wir gehen, wir könnten uns schon glücklich schätzen, wenn wir durch einen Tag kämen, ohne bespuckt zu werden. Chick, du weißt nicht, wie das ist, wenn jeder auf einen herabschaut, mit dem Finger auf einen zeigt und einen behandelt, als sei man weniger als nichts. Du glaubst bloß, du wüsstest es, aber du hast keine Ahnung. Ich habe fast mein ganzes Leben so gelebt, bis auf das eine letzte Jahr, und ich kann nicht mehr dorthin zurück. Ich kann nicht.«
»Was willst du damit sagen, Barbara Jean?«
Sie atmete tief durch und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die sich so unnachgiebig ihren Weg bahnen wollten, und dann sagte sie das, wovor sie sich die ganze Woche lang gedrückt hatte: »Ich will damit sagen, dass ich Lester heiraten werde.«
Chick versuchte gar nicht erst seine Tränen zurückzuhalten, die ihm über die Wangen liefen, oder er schaffte es nicht, als er schrie: »Du liebst mich! Ich weiß, dass du mich liebst!« Und es klang wie eine Anklage.
Sie antwortete ganz automatisch und ehrlich, ohne darüber nachzudenken. Sie sagte: »Ja. Ich liebe dich.« Barbara Jean spürte, wie ihr Wille langsam schwand. Sie wollte ihn packen und ihn mit sich ins Bett ziehen, ohne darüber nachzudenken, wer sie zusammen entdecken könnte. Aber dann fühlte sie, wie die Hand ihrer Mutter sie zur Tür stieß, genauso deutlich, als wäre Loretta noch quicklebendig. Als Barbara Jean sich aus der Kammer zurückzog, benutzte Loretta sogar den Mund ihrer Tochter, um zu sagen: »Aber Liebe hat noch niemandem einen Bissen Essen auf den Tisch gebracht.«
Sie war weder in der Lage, ihren Freundinnen noch den Klatschtanten im Speiseraum des All-You-Can-Eat gegenüberzutreten, also schlüpfte sie aus der Hintertür. In der Gasse hinter dem Restaurant spürte sie ihren Magen rebellieren. Sie krümmte sich und musste nach Luft schnappen. Als sich ihre Nerven und ihr Magen wieder etwas beruhigt hatten, ging sie einmal um den Block. Dann schlug sie den Weg über die Gasse hinter der nächsten Straße ein, um von hinten zu Big Earls und Miss Thelmas Haus zu gelangen und nicht von ihren Freunden im Restaurant gesehen zu werden. Als sie das Haus schließlich durch die Hintertür betrat, fühlte sie sich schon ein wenig besser. Sie sagte sich, sie habe die richtige Entscheidung für sich und auch für Chick getroffen. Dies war der erste Schritt in ein neues und besseres Leben, das Leben, das sie verdiente. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, was Gott, dieser alte Komödiant, mit ihr im Sinn hatte.
26
Ich hatte nicht gedacht, dass ich es noch erleben würde, dass Clarice Richmond verlässt. Ich hatte sie schon als Paar gesehen, seit wir Kinder waren und er sie mit Walnüssen beworfen und »Zeitbombe!« geschrien hatte, wenn sie davonlief. Sie waren bereits ein Liebespaar gewesen, noch bevor einer von uns wusste, was das überhaupt bedeutete. Nun hatte Clarice den Schritt gemacht und mich mit ihrem Umzug nach Leaning Tree vollkommen überrascht. Ich konnte nicht anders, als mich in die Menge derjenigen einreihen, die sie begafften, als seien sie zwei Kuriositäten aus einem Wanderzirkus.
Vieles war noch beim Alten. Clarice und Richmond trafen sich jeden Sonntag zur Morgenmesse in der Calvary-Baptist-Kirche. Sie kamen auch noch ins All-You-Can-Eat und saßen an ihren üblichen Plätzen am Tisch.
Aber Clarice hatte aufgehört so zu tun, als wäre der Gang in die Calvary ein Vergnügen für sie. Der starrköpfige Gottesdienst, bei dem Feuer und Schwefel gepredigt wurden und den sie früher als Messlatte für alle anderen Kirchen angesetzt hatte – und mit dem in ihren Augen keine andere mithalten konnte –, brachte ihr nicht mehr dieselbe Genugtuung wie früher. Sie fing an darüber zu murren, wie sehr man die Gemeinde zur Voreingenommenheit drängte – was ich offen gesagt immer für die Sache gehalten hatte, die ihr am meisten an ihrer Kirche gefiel. Und sie bemühte sich auch nicht, ihren Unmut über Reverend Peterson zu verhehlen, der sie schon zweimal aufgesucht hatte, um sie an ihre Pflichten als christliche Ehefrau zu erinnern und seiner Enttäuschung über ihr »jüngst so beklagenswertes Verhalten« zum Ausdruck zu bringen. Sie fand sogar einige besonders harsche Worte über die Calvary Baptist und ihren Pastor, nachdem sie das wöchentliche Kirchenblatt aufgeschlagen und ihren Namen entdeckt hatte, auf
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