Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Vielleicht, wenn sie damals mutiger gewesen wäre, würde ihr Junge heute noch leben.
25
Am vierten April 1968, in der Nacht nachdem Barbara Jean mit Odette und Clarice in Mrs Jacksons Gartenlaube gesprochen hatte, wurde Dr. Martin Luther King, Jr. in Memphis ermordet. Sowohl Chicago als auch Detroit, die beiden potentiellen Fluchtorte für Chick und Barbara Jean, gingen in Flammen auf.
Barbara Jean, Miss Thelma und Little Earl schauten Fernsehen, als eine Parade ernster, weißer, männlicher Gesichter versuchte, dem weißen Amerika zu erklären, was man an diesem Tage verloren hatte. In dieser Nacht kam Big Earl erst spät nach Hause. Sobald er die Tür hinter sich zugemacht hatte, fragte Miss Thelma: »Wo bist du gewesen? Ich habe gesehen, dass die Lichter drüben schon vor fast einer Stunde ausgegangen sind. Ich hab mir Sorgen gemacht.«
»Ich habe Ray zu seinem Bruder gefahren«, sagte er.
»Was? Du bist rüber zu diesen durchgeknallten Hinterwäldlern gefahren? Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
Big Earl sagte: »Es hat Ärger im Restaurant gegeben, und ich wollte nicht, dass er die ganze Nacht allein dort drüben ist.«
Miss Thelma bewahrte Barbara Jean davor nachhaken zu müssen, was passiert war, indem sie fragte: »Was für Ärger?«
»Nichts Großes, Ramsey und ein paar seiner Freunde haben sich blöd benommen. Sie haben das bisschen Verstand, das sie haben, verloren und meinten, sie müssten einen Weißen zusammenschlagen. Also ist Ramsey auf Ray losgegangen.«
Barbara Jeans Herz begann so laut zu pochen, dass sie sicher war, jeder im Raum könne es hören.
»Ist Ray okay?«, fragte Miss Thelma.
Big Earl lachte. »Ihm geht’s gut. Odette und James waren da und sind eingeschritten. Wenn man dieses Mädchen wütend macht, dann hat man wirklich einen erbitterten Gegner. Ich musste sie eigenhändig von Ramsey wegziehen. Und er wird morgen ein schlimmes blaues Auge haben. Das wird ihn lehren, sich nicht wie ein Idiot aufzuführen.«
»Nein, das wird es nicht«, sagte Miss Thelma.
Big Earl nickte. »Du hast recht. Das wird es nicht.«
»Du hättest Ray mit zu uns nehmen sollen, anstatt ihn zu seinem Bruder zu bringen«, sagte Miss Thelma.
»Ich hab ihn gefragt, aber er wollte nicht mit zu uns kommen. Irgendwas ist los mit ihm.«
Barbara Jean hätte schwören können, dass Big Earl sie anstarrte. Aber sie sagte sich, dass das bloß ihre Einbildung sein musste; sie hatte keinen klaren Gedanken mehr fassen können, seit Lester sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle. Als sie zusammen mit den McIntyres vor dem Fernseher saß und sich eine Wiederholung der hässlichen Geschichte nach der anderen ansah, dachte sie an den Jungen, den sie liebte und der jetzt in einem kalten Schuppen in einem Teil der Stadt hockte, wo die Leute zur Feier der Ereignisse in die Luft schossen.
Das Leben in Plainview kam in den Tagen nach der Ermordung von Dr. King praktisch zum Erliegen. Die Universität befürchtete so sehr, dass eine Handvoll schwarzer Studenten einen Aufstand anzetteln könnte, dass alle Kurse abgesagt wurden. In manchen weißen Vierteln wurden Barrikaden aufgebaut. Die Leute hatten Angst aus dem Haus zu gehen, also machten auch die Geschäfte vorübergehend zu. Einige Ladenbesitzer, die gesehen hatten, was in den großen Städten überall im Land passiert war, blieben mit Schrotflinten auf dem Schoß rund um die Uhr in ihren Geschäften und warteten auf Plünderer. Big Earl war einer der wenigen Leute, die von Anfang an begriffen hatten, dass die Situation in Plainview nicht eskalieren würde. Er hielt sein Restaurant jeden Tag geöffnet.
Am Nachmittag nach Dr. Kings Tod schaute Barbara Jean im All-You-Can-Eat vorbei. Clarice passte sie gleich bei der Eingangstür ab. Sie packte sie am Arm und zog sie an den Fenstertisch. Dann platzte sie heraus: »Es tut mir so leid, Barbara Jean. Die einzige Person, der ich es erzählt habe, ist meine Mutter.«
Barbara Jean verstand zuerst nicht, wovon Clarice redete. Aber sie kam ziemlich schnell dahinter, als sie sich umsah und merkte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Da wurde ihr klar, dass sie ein Restaurant voller Leute vor sich hatte, die alle ihr Geheimnis kannten.
»Meine Güte, Clarice«, sagte sie.
»Es tut mir leid. Es tut mir leid. Alle waren gestern Abend so niedergeschlagen. Ich wollte an etwas Schönes denken, um uns von all den schlimmen Dingen im Fernsehen abzulenken, und da ist es mir so rausgerutscht. Mutter hat
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