Muckefuck
herauszuhängen. Zu diesem Zweck hatte er ans Küchenfenster, das zur Straße ging, einen Fahnenschuh geschraubt. Wurde die Fahne nicht gebraucht, stopfte Herr Reh sie in den Besenschrank.
An Herrn Reh probierte ich meinen deutschen Gruß aus, weil es mit dem Vorbeimarsch an Herrn Gallerts Flaggenmast ja aus war. Aber Herr Reh und seine Dohle sagten stets mit gleichbleibender Freundlichkeit »Guten Morgen« oder »Guten Tag«. Da Herr Reh, als einziges Laubenerbe, eine Milchziege auf der Terrasse hielt, holte ich bei ihm jeden Tag einen halben Liter frische Milch. Eine Anordnung von Großmutter, nicht zu umgehen, sie sollte zur Kräftigung meiner immer noch geschwächten Natur dienen. So hatte ich oft Gelegenheit, Herrn Reh herauszufordern. Ohne Erfolg.
Ich probierte es auch bei unserem alten Doktor Erdemann, der meine vielen Anginen und Masern samt Rückfall kuriert hatte. Mitten auf der Straße bedachte ich den Doktor mit dem neuen Gruß. Da hielt er mich an, schaute mir in den Hals, behauptete, meine Mandeln seien entzündet und schrieb mir auf der Stelle ein langes Rezept aus. Durch einen Anruf bei Ede erreichte er, dass ich alle sieben Medizinen, die er aufgeschrieben hatte, auch schlucken musste. Eine schmeckte bitterer als die andere. In Zukunft ließ ich es Dr. Erdemann gegenüber bei »Guten Tag«.
Minnamartha interessierte sich seit den Ferien immer weniger für den Alltag. Sie lag auf der Chaiselongue unter den beiden Hirtinnen, verzehrte Konfekt und ignorierte die heraufdämmernde neue Zeit. Wenn Ede über die Nazis schimpfte oder den Mann rausschmiss, der für die NS-Volkswohlfahrt sammeln kam, sagte sie:
»Ede, verbrenn dir nicht die Finger!«
Dann sank sie wieder auf die Chaiselongue zurück, ein Berg von Mensch, der zu Migräne neigte, und blätterte eine neue Seite der Berliner Hausfrau auf. Manchmal kamen Nachbarinnen, mit denen sie über Verdauungsbeschwerden tratschte.
Sie war uns allen, wie Ede es ausdrückte, keine rechte Stütze mehr. Nicht ganz auf dem Posten sei sie wohl, sagte sie von sich selbst. Eine Bemerkung, durch die ich Minnamartha mit Stahlhelm und Gewehr vor meinem geistigen Auge sah, wie sie im Schilderhäuschen Posten schob; an gesunden Tagen. Großmutter setzte ihre Tees an, die sonst immer halfen, hier versagte die Heilkraft der Kräuteraufgüsse. Der Schaden lag tiefer. Auch Minnamartha war ihr neues Dasein als Hausbesitzerin ein wenig unheimlich. Obwohl sie ihren Kuchen jetzt wieder zu Hause aß.
Mathilde füllte neuerdings auch einen gehobenen Posten aus, beim BDM. Aus dem Maisdschungel Onkel Huberts war sie herausgetreten, hatte sich abgeschminkt und als braune Amazone in BDM-Kluft geworfen, die Brennschere war in die Kommodenschublade verdammt. Blonde Zöpfe umwehten nun Mathilde, wenn sie zum Birkenwäldchen radelte, bei uns vorbei, um Dienst zu machen.
Wie liebten wir die neue Mathilde! Othmar und ich standen oft an der Straße, wenn sie vorbeisauste, in die Kurbel trat, so wundersam lächelte unter dem Blondhaar.
»Ist sie nicht herrlich?«, fragte ich.
»Bongfortzionös«, bestätigte Othmar.
So vorwitzige Knaben erhörte Mathilde selbstverständlich nicht, ihr Streben galt Höherem, dem Dienst am Volke. Auch vom Zerstörermatrosen, dem Verlobten, war nicht mehr die Rede. Mathilde trug weiße Söckchen. Immer strahlend weiß. Wie sie das schaffte, war eines ihrer Geheimrezepte. Onkel Hubert, auf die neue Richtung Mathildes angesprochen, blieb stumm: So weit reichte sein Bierfahrerhorizont nicht, dass er sich das erklären konnte. Oben auf einem Regal lag in seiner Laube Mathildes Sonnenbrille. Unauffällig schauten Othmar und ich uns einmal um, ob sie auch ihren Minibüstenhalter irgendwo abgestreift hatte, aber den trug sie anscheinend weiter, auch unter der weißen BDM-Bluse. Nie mehr drang ich bis zu Mathildes Jungmädchengemach in der Zweizimmerwohnung über der Brauerei vor, aber ich hätte gewettet, dass dieses Gemach jetzt mit Führerbild und Ährenkranz geschmückt war. Vielleicht stand neben dem Bett noch ein Spinnrad.
Wir legten Mathilde unsere Herzen zu Füßen, Othmar und ich. Sie rief: »Na, Jungs?«
So zurückgestoßen, beschlossen Othmar und ich, auf seiner alten Remington-Schreibmaschine einen Roman zu verfassen. Einen Roman, das hatten wir uns vorgenommen, in dem wir alles sagen wollten. Frei von der Leber weg, hätte Minnamartha gesagt. Wir wollten hineindichten, was wir über die Liebe und die Frauen wussten und die Geheimnisse, die den
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