Muckefuck
»Packen wir zusammen. Sechs paar Strümpfe, da kann ich ja nur lachen. So viel hast du gar nicht. Außerdem gehen auf dem Lande die Kinder barfuß. Das kannst du auch. Ist doch Sommer.«
Ich verdrückte mich. Großmutter erntete draußen im Garten Stachelbeeren. »Erntehilfe«, sagte sie. »Du kannst doch keinen Maiskolben von einer Zuckerrübe unterscheiden!«
»Vielleicht lerne ich es?«
»Du nicht. Du bestimmt nicht.«
»Vergiss nicht das Kochgeschirr«, sagte Ede. Er freute sich, dass ich aus der gefährdeten Stadt herauskam.
Die Lehrer, emsig um unser Wohl bemüht, stopften uns eines Morgens in französische Beutewaggons, die auf einem Abstellgleis standen, bei sengender Hitze, bis zum Mittag. Dann spannte sich eine altersschwache Güterzuglok davor und schleppte uns im Schneckentempo über zahllose Weichen aus der Stadt. In drei Tagen sollte uns der Sonderzug an die äußerste Ecke Deutschlands bringen, wo Weizenfelder und kaschubische Bauern auf uns warteten. Langsam dampften wir durch die Mark, die Landschaft, die einst Friedrich der Große kultiviert hatte, beziehungsweise seine Untertanen, die er in den Oderbruch abkommandierte. Sumpf und Sand. Auch heute, zweihundert Jahre später, wuchs hier nichts anderes als Roggen, Kartoffeln und Gras. Schwarz-weiße Kühe weideten, Kühe mit den preußischen Farben.
Langsam fuhr der Zug weiter. Bar jeder Spur von Bartwuchs sangen wir: Unrasiert und fern der Heimat – fern der Heimat unrasiert… und freuten uns. Wir rollten endlich zum Einsatz. Wie Soldaten. Wie jene Soldaten, die uns auf Güterzügen begegneten, siegreich aus Russland kommend. Auf den Stationen reichten uns Rotkreuzschwestern Erbsensuppe und Kaffee. Lagermannschaftsführer Paul Gerhard Kleist, der uns begleitete, zupfte die Klampfe. Es war wie an den schönsten Tagen mit Jungenzugführer Kulle Rosenbusch im Birkenwäldchen.
Der Zug, unser Einsatzzug, hatte uns nur bis zur nächsten Kreisstadt gebracht. Dann waren wir in eine winzige rote Kleinbahn umgestiegen, die uns bis zur Endstation, ins Kaschubendorf in der Nähe des Meeres transportierte.
Am Bahnhof standen die kaschubischen Bauern. »Wo sind die Studenten?«, fragten sie. »Seid ihr das?« Wir fühlten uns geschmeichelt. Später stellte sich aber heraus, dass man den Bauern für die Erntehilfe wirklich Studenten versprochen hatte. Stattdessen wurden nun hier dreizehnjährige Stadtjungen ausgeladen, blass, ohne Muskeln und dürr durch die mangelhafte Ernährung in der letzten Zeit. Je nach Temperament packte die Kaschubenbauern das Mitleid oder die Wut. Sie begleiteten uns zur Jugendherberge. Stumm sogen sie an ihren Pfeifen. Vor der Herbergsbaracke warteten sie kaum, dass wir unser Gepäck ablegten und nahmen uns mit auf ihre Höfe.
Othmar und ich kamen zum selben Bauern. Er steckte uns, obwohl es schon dunkel wurde, auf den Heuboden und ließ uns das frisch eingestakte Heu festtreten. Wir hüpften umher wie Hunde in den Wasserpumprädern mittelalterlicher Bergwerke, während immer neues Heu vom Fuder durch die Dachluke zu uns hereinflog, um uns, dessen waren wir nach fünf Minuten sicher, lebendig zu begraben. Othmars blonde Locken glänzten schweißnass im Schein der Stalllaterne, die an einem Balken über uns hing. Er sprang, ein Floh im Braunhemd, auf und ab.
Struchen Johann, der Bauer, mit hohen Backenknochen, wie sie jenem slawischen Volksstamm eigen sind, schaute ab und zu von draußen durch die Luke herein, lachte und fragte: »Na, leben die Herren Studenten noch?« Eine Zeit lang konnten wir diese Frage bejahen. Dann antworteten wir nicht mehr, weil wir dazu keinen Atem mehr hatten.
Wie durch ein Wunder war das Fuder plötzlich aufgestakt. Struchen Johann zog zwei triefende Bündel vom Heuboden.
Othmar und mich.
In der Küche lächelte uns die noch junge Bäuerin mit einem teueren Goldzahn an und gab uns Milch und Linsensuppe. Wir erholten uns.
Als wir wieder reden konnten, mussten wir von uns erzählen. Das fiel uns leicht. Denn alles, was wir bisher erlebt hatten, erschien uns als sanftes Schicksal gegenüber dem, was uns hier in den ersten Stunden auf dem Bauernhof widerfahren war. Böse waren sie nicht, unsere Kaschuben. Sie konnten es nur nicht begreifen, dass jemand fast umkippte, bloß, weil man ihn zwei Stunden auf den Heuboden sperrte.
Neben Struchen Johann, dem Bauern, gab es auf dem Hof noch einen Bruder der Bäuerin, der nichts zu sagen hatte, sich um die Pferde kümmerte und einfach Schwager genannt
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