Mucksmäuschentot
ich der rauen Wirklichkeit durchaus ins Gesicht geblickt – sogar zu oft. Ich bezweifelte, dass Mrs Harris das auch von sich sagen konnte, sonst wäre sie wohl verständnisvoller gewesen.
Sie ging um halb fünf, und ich machte Hausaufgaben, bis Mum gegen halb sieben nach Hause kam. Wenn ich mit den Hausaufgaben fertig war, übte ich Flöte. Der Notenständer stand neben dem Klavier, damit ich in den Vorgarten blicken konnte. Wenn mir nicht nach Musik zumute war, las ich oder malte mit Aquarellfarben. Da ich nicht sehr geübt darin war, mir Dinge auszudenken, holte ich eines der großen Kunstbücher aus dem Wohnzimmer und kopierte ein besonders schönes Pferd oder eine interessante Landschaft. Manchmal versuchte ich mich auch an einem der Gegenstände auf dem Sideboard im Esszimmer – der Holzschale mit der Duftmischung, der Vase mit den getrockneten Blumen oder den vielen Nippfiguren aus Porzellan und Glas, die Mum im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Die meisten dieser Gegenstände hatte Mum von ihrer eigenen Mutter geschenkt bekommen (sie hatte nie den Mut gehabt, ihr zu sagen, dass es eigentlich nicht so ganz ihr Geschmack war). Sie waren furchtbar kitschig – ein Igel von Beatrix Potter; ein viktorianisches Blumenmädchen mit rosigen Wangen; ein kleiner Junge, der mit einer Leine angelte, die an seinen dicken Zeh gebunden war; ein gläserner Delphin, der das Wasser durchbrach; ein winziges strohgedecktes Häuschen –, dennoch, je kitschiger sie aussahen, desto lustiger fanden wir sie und umso mehr hingen wir an ihnen.
Am schönsten waren die Abende, die ich mit Mum im Honeysuckle Cottage verbrachte. Wenn sie von der Arbeit kam, machte ich eine Tasse Tee, und wir unterhielten uns am Küchentisch. Wir hatten ein Ritual aus
An deiner Seite,
einem Film mit Michelle Pfeiffer, übernommen, in dem eine Familie beim Abendessen von den Höhe- und Tiefpunkten des Tages erzählt.
Meine Höhepunkte waren meist gute Noten von Roger oder ein besonders aufregendes Kapitel in meinem Roman oder ein Bild, das sich als gelungen herausstellte. Tiefpunkte erlebte ich, wenn ich wegen der Narben niedergeschlagen war oder an meinen Dad denken musste und wütend auf ihn war, weil er uns im Stich gelassen hatte. Mums Höhepunkte waren erfolgreich abgeschlossene Fälle und das Lob dankbarer Mandanten; die Tiefpunkte hatten gewöhnlich mit dem unerträglichen Mr Blakely zu tun, der wieder einmal grob gewesen war oder sie sogar beschimpft oder sich im Kopierraum an sie gepresst hatte.
Mum versuchte stets, mir Mut zu machen. Sie behauptete, dass meine Narben verheilten, und ich tröstete sie wegen Blakely, obwohl ich nicht sehr viel mehr als Allgemeinplätze anbieten konnte. Sie durfte ihren Job nicht aufs Spiel setzen. Sie brauchte ihn.
Wir
brauchten ihn. Doch die Sache mit Dad war sehr viel komplizierter. Trotz meines Zorns hatte ich auch Sehnsucht nach ihm und deswegen wiederum ein schlechtes Gewissen. Diese geheime Sehnsucht nach Dad drohte mich zu überwältigen und die Verbindung zwischen mir und Mum zu kappen. Ich merkte, wie sie zusammenzuckte, wann immer ich ihn erwähnte. Ich hatte Angst, sie zu verletzen und vor den Kopf zu stoßen. Dabei wusste ich nur zu gut, dass ich keine Freunde hatte und ohne sie verloren wäre.
Nachdem wir Tee getrunken hatten, zog Mum ihre Bürokleidung aus, und wir machten gemeinsam das Abendessen. Wir kochten für unser Leben gern und probierten komplizierte Rezepte aus unseren unzähligen Kochbüchern aus. Manchmal verbrachten wir zwei Stunden in der Küche und hackten Gemüse auf dem schweren Marmorbrett, das Mum in Italien gekauft hatte, während auf dem Herd die Töpfe zischten und blubberten.
Nach dem Essen saßen wir im Wohnzimmer, die Heizung voll aufgedreht. Wenn es wirklich kalt war, flackerte ein Feuer im Kamin. Meist lasen wir Romane (obwohl Mum oft auch Akten wälzte) oder hörten klassische Musik. Ich war mit klassischer Musik aufgewachsen, weil es eine ihrer großen Leidenschaften war – sie war eine begabte Amateurpianistin. Ich hatte versucht, Gefallen an Popmusik zu finden, aber es hatte nicht richtig funktioniert. Wir liebten Mozart und Chopin, Tschaikowsky und Brahms, doch unsere absoluten Favoriten waren die Opern von Puccini. Da es kilometerweit keine Nachbarn gab, konnten wir die Stereoanlage auf volle Lautstärke drehen und die tragische Schönheit von
La Bohème
oder
Madame Butterfly
genießen.
Außer Nachrichten schauten wir selten fern. Es schien nur
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