Mucksmäuschentot
»Konzentrationspausen« erzählte er mir nach und nach ein bisschen über sich. Er hatte sein Geschichtsstudium mit Auszeichnung abgeschlossen und danach eine Ausbildung zum Lehrer gemacht. Das war immer sein Ziel gewesen. Seine Eltern waren beide Lehrer gewesen, und er hatte gesehen, wie befriedigend und beglückend diese Arbeit für sie gewesen war.
Für Roger war die Wirklichkeit jedoch ganz anders als die Phantasievorstellungen. Er war in einer Schule gelandet, in der die meisten Kinder gar nicht lernen wollten. Aufgrund seines Aussehens verabscheuten ihn die Schüler und gaben ihm den Spitznamen Fötus. Er hatte schreckliche Disziplinprobleme mit seinen Klassen. In den fünf Jahren, die er durchhielt, hatten ihn Schüler
elfmal
körperlich angegriffen. Sein Auto war mit einem Schlüssel zerkratzt und die Reifen so oft aufgeschlitzt worden, dass er es schließlich verkauft hatte und von da an zu Fuß zur Schule gegangen war, immerhin ein Weg von sechs Kilometern. Den Bus konnte er nicht nehmen, weil er fürchtete, darin auf Schüler zu treffen.
Nachdem ihm ein Schüler einen Kopfstoß vor den Mund versetzt und einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte, erlitt Roger einen Nervenzusammenbruch und musste seine Arbeit aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Als er sich erholt hatte, kehrte er an die Universität zurück und forschte über die Ursachen des Ersten Weltkriegs
(eines der schlimmsten Mäusemassaker in der Geschichte)
. Da sein Stipendium sehr gering war, hatte er mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Daraufhin hatte ihm ein Freund vorgeschlagen, sich bei den örtlichen Behörden als Privatlehrer für kranke oder psychisch belastete Kinder zu melden. Ich war erst seine zweite Schülerin.
Bei Roger schwand meine frühere Zurückhaltung, und ich konnte ihm meine eigene Geschichte erzählen: von meinem Dad, dem sein Sexleben wichtiger war als seine eigene Tochter; von den JETS , die mich fast bewusstlos geschlagen und mein Haar in Brand gesetzt hatten.
»Erstaunlich«, sagte ich eines Tages zu ihm, »dass wir beide Mobbingopfer sind – du als Lehrer und ich als Schülerin.«
Er runzelte flüchtig die Stirn, als sähe er doch einen Unterschied, lächelte dann aber:
Warum der Wahrheit nicht ins Auge sehen?
»Wir haben viel gemeinsam«, sagte ich.
Seine verzerrten grünen Augen ruhten auf meinem Gesicht. »Ja, Shelley, wir haben viel gemeinsam.«
Um ein Uhr machten wir Schluss, und Roger fuhr zurück in die Stadt. Beim Abschied machte er immer denselben Witz: »Zum Glück habe ich ein Wollknäuel dabei, sonst würde ich nie zurück in die Zivilisation finden!«
Ich aß etwas Leichtes zu Mittag, meist einen Salat, und sah mir im Fernsehen die Nachrichten an. Mum hatte so viel zu tun, dass sie die Mittagspause durcharbeiten musste und meist nur rasch ein Sandwich am Schreibtisch aß. Während sich Blakely, Davis und die anderen Partner im örtlichen Bistro vollstopften und selbstzufrieden mit ihren dicken Brieftaschen prahlten, saß Mum allein im verlassenen Büro und korrigierte still und fleißig die Fehler ihrer Chefs.
Nach dem Mittagessen vertiefte ich mich in einen Roman. Dabei saß ich auf dem Fenstersitz in meinem Zimmer, umhüllt von dem wunderbar klaren Licht. Wenn es warm war – und wir hatten in jenem Februar ein paar wunderbare Tage –, las ich auch draußen, wobei ich immer darauf achtete, die Narben vor der Sonne zu schützen.
Um halb drei kam Mrs Harris, eine gedrungene, kampflustige Frau mit orange gefärbtem Haar. Sie mochte Mitte fünfzig sein. Mit ihr kam ich bei weitem nicht so gut zurecht wie mit Roger, und zwar nicht nur, weil sie mich in Mathe und Naturwissenschaften unterrichtete, die nun wirklich nicht zu meinen Lieblingsfächern gehörten.
Mrs Harris unterrichtete seit Jahren Mäuse wie mich und hatte ihre Sympathie für unsereins vollständig verloren. Sie war zu dem Schluss gelangt, dass wir nur Drückeberger waren – verwöhnte Kinder, die sich nicht der rauen Wirklichkeit stellen wollten. Einmal machte ich eine Bemerkung über meine Narben, worauf sie mich verächtlich ansah.
»Narben? Narben? Das nennst du
Narben
? Du solltest dir mal im Krankenhaus ansehen, wie
echte
Verbrennungen aussehen. Ein bisschen Make-up, und niemand bemerkt deine Narben. Aber das ist das Problem mit euch jungen Leuten von heute – ihr seid zu eitel und denkt nur an euch selbst.«
Ihre Haltung empörte mich, aber ich war zu schwach, um mich zu verteidigen. Mir war, als hätte
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