Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
Vom Netzwerk:
würden überhaupt nicht bestraft!
    Manche Leute wären umgehend zur Schule gefahren und hätten den Brief vor den Augen des Direktors zerrissen; andere hätten eine große Tageszeitung angerufen und die Schule mitsamt ihrem feigen Direktor in die Schlagzeilen gebracht; andere wiederum hätten sich beim Lokalfernsehen gemeldet, ein Kamerateam herbestellt und meine Narben filmen lassen. Manche Leute hätten alles getan, damit diese Mädchen für ihre Taten bestraft wurden und ihre Bosheit öffentlich bekannt wurde …
    Doch zu diesen Leuten gehörten wir nicht. Wir waren Mäuse. Brav bedankten wir uns bei dem Polizeiinspektor, weil er sich die Zeit genommen hatte, und akzeptierten, dass es keine Strafverfolgung geben würde. Brav akzeptierten wir die Entscheidung des Direktors, die drei Mädchen nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Wir waren brav, akzeptierten, unterwarfen uns, sagten nichts, taten nichts, denn Mäuse kennen nur Schwäche und Unterwerfung.
    In der zweiten Novemberwoche hatte ich keine Schmerzen oder andere Beschwerden mehr. Eigentlich sprach nichts dagegen, wieder zur Schule zu gehen. Nur wusste ich, dass Teresa, Emma und Jane dort auf mich warteten. Und wenn die drei mich allein erwischten – was dann?
    Trübsinnig schlich ich durchs
eheliche Heim
, während Mum bei der Arbeit war. Ich saß vor dem Frisierspiegel und versuchte vergeblich, etwas mit meinem kurzen Haar anzufangen. Es stand mir überhaupt nicht – mein Gesicht wirkte männlich, der Kopf zu groß für die Schultern, und meine Ohren, die ich schon immer gehasst hatte, waren deutlich zu sehen. Voller Abscheu untersuchte ich meine Stirn und den Hals, wo die Verbrennungen ihre braunen Spinnenfinger wie eine widerliche, außerirdische Membran über meine blasse Haut gelegt hatten.
(Wieso verblassten sie nicht? Er hatte doch gesagt, sie würden verblassen!)
    Und meine Gedanken kehrten zu dem Balken in der Garage und dem Gürtel meines Bademantels zurück …
     
    Dann aber erhielt ich die beste Nachricht der Welt. Der Schuldirektor, der unser jämmerliches Schweigen als Trotz deutete und sich vor schlechter Publicity fürchtete, schrieb uns einen weiteren Brief. Diesmal unterbreitete er uns einen Vorschlag: Falls Mum sich verpflichtete, kein Gerichtsverfahren gegen die Schule anzustrengen und den »Vorfall vom 23 .« nicht mit »Nachrichtenmedien« zu diskutieren, müsste ich nicht in die Schule zurückkehren. Stattdessen würde die Schule dafür sorgen, dass ich bis zu den Prüfungen im Sommer, die ich zu Hause ablegen durfte, Privatunterricht erhielt. Außerdem würden sie dem Prüfungsausschuss nahelegen, die Noten für meine bereits eingereichten Arbeiten »angesichts der schwierigen Umstände, unter denen sie angefertigt wurden (für welche die Schule jedoch keine Haftung übernimmt), um zehn Prozent anzuheben«.
    Mum unterzeichnete die Verpflichtung sofort, während ich jubelnd um sie herumtanzte, und schickte sie umgehend zurück an die Schule. Ich war im Freudentaumel.
Ich musste nicht zurück in die Schule! Ich musste meinen Peinigerinnen nicht mehr gegenübertreten!
Wenn die Lehrer fünf Tage in der Woche für fünf Stunden zu mir nach Hause kamen, würde meine Prüfung sicher richtig gut laufen. Ich würde in die Schule zurückkehren, wenn die betreffenden Mädchen abgegangen waren, und könnte mich auf die Universität vorbereiten. Ich würde neue Freundinnen finden. Ein neues Leben beginnen …
     
    Um das zu feiern, kochte Mum an diesem Abend mein Lieblingsessen: Ente in Orangensauce mit Röstkartoffeln, Erbsen und Brokkoli, gefolgt von Apfelkuchen mit Eis. Als Überraschung stellte sie eine Flasche Rotwein und zwei große Gläser auf den Küchentisch.
    »Du weißt ja wohl, dass du damit gegen das Gesetz verstößt, oder?«, neckte ich sie, als der Wein gluckernd in meinem Glas landete. »Ich darf erst in zwei Jahren offiziell Alkohol trinken. Dabei bist du Rechtsanwältin!«
    »Ich glaube, du hast es verdient.« Sie lächelte.
    Mir fiel auf, wie müde sie aussah. Die Falten unter ihren Augen waren ein bisschen tiefer, die grauen Strähnen in ihrem dunklen, krausen Haar mehr geworden. Da wurde mir klar, wie schwer das alles auch für sie gewesen sein musste.
Das ist der Fluch der Mütter,
dachte ich,
sie empfinden den Schmerz ihrer Kinder wie ihren eigenen.
    »Du auch, Mum.« Ich lächelte, und wir stießen miteinander an.
    »Außerdem wirst du in – Moment – in vier Monaten sechzehn. Wenn man mit sechzehn heiraten kann,

Weitere Kostenlose Bücher