Mucksmäuschentot
ist man auch alt genug, um ein Glas Wein zu trinken.«
Als wir mitten im Essen waren, klingelte das Telefon, und Mum hatte noch den Mund voll, als sie ranging. Sie stand neben dem Telefonregal und machte komische, schmerzliche Grimassen, wackelte mit dem Kopf, verdrehte die Augen, kaute und kaute und kaute, konnte aber immer noch nicht schlucken. Ich kicherte hemmungslos, weil es so lustig aussah, sicher war mir auch der Wein zu Kopf gestiegen. Endlich konnte sie den Hörer abnehmen. Es war Henry Lovell, ihr Anwalt. Er teilte ihr mit, dass das Ehepaar, das Interesse am
ehelichen Heim
bekundet hatte, nun ein offizielles Angebot eingereicht habe, das »die andere Partei« (womit er ihren Ehemann, meinen Dad, meinte) akzeptiert habe.
»Und … was macht die Haussuche?«, fragte er als Nächstes.
»Gar nichts. Wir haben noch nicht mal angefangen!«
»Dann sollten Sie besser loslegen«, warnte er sie. »Anscheinend sind die Leute ganz wild darauf, sobald wie möglich einzuziehen.«
Wir tranken die ganze Flasche Rotwein, weil wir nun doppelten Grund zum Feiern hatten, und ich erwachte am nächsten Morgen mit meinem ersten Kater. Doch selbst der bohrende Schmerz in meinen Schläfen konnte meine Laune nicht trüben. Keine Schule mehr. Keine Teresa, keine Emma, keine Jane. Keine Demütigungen mehr. Kein stilles Leiden. Kein Schmerz. Und zu alledem war auch noch das
eheliche Heim
verkauft worden. Wir würden aus dem Haus des Schreckens ausziehen, aus diesem Museum einer gescheiterten Ehe. Endlich!
Sechs Wochen später stand ich im Vorgarten von Honeysuckle Cottage vor dem ovalen Rosenbeet.
9
Unser Leben in Honeysuckle Cottage verlief bald in festen Bahnen.
Wir frühstückten jeden Morgen zusammen am Küchentisch. Ich bereitete alles vor (und war stolz darauf, wie leicht es mir von der Hand ging), während Mum in ihrer üblichen Morgenpanik umherrannte, auf die Schnelle eine Bluse bügelte, auf den letzten Drücker E-Mails verschickte oder das ganze Haus nach irgendetwas absuchte. Wir hatten einen festen Plan – abwechselnd Toast und Müsli –, den wir sogar an den Wochenenden strikt einhielten.
Mum verließ um Viertel nach acht das Haus, da sie jetzt einen viel längeren Weg zur Arbeit hatte. Wir verabschiedeten uns wie ein altes Ehepaar – ich gab ihr in der Diele zwei Küsschen, mahnte sie, vorsichtig zu fahren, und winkte ihr von der Tür aus, wenn sie mit dem uralten Ford Escort auf dem knirschenden Kiesweg langsam zurücksetzte. Sie schaute immer zu mir und winkte noch einmal, wobei sie die Finger nach unten klappte wie eine Handpuppe, die sich verbeugt. Wenn sie weg war, spülte ich die Sachen vom Frühstück und Abendessen, hörte Nachrichten und ging dann nach oben, um mich anzuziehen.
Um Punkt zehn erschien mein Hauptlehrer Roger Clarke. Er unterrichtete mich in englischer Sprache und Literatur, Geschichte, Französisch und Erdkunde, den fünf Fächern, in denen ich am sichersten mit einer Eins rechnete. Roger und ich arbeiteten an dem großen Tisch im Esszimmer und tranken dabei zahllose Tassen Tee, der laut Roger so stark war, »dass der Löffel drin steckenbleibt«.
Zuerst war Mum nicht sonderlich begeistert, dass mich ein Mann unterrichten sollte, doch nachdem man ihr versichert hatte, dass er auf Herz und Nieren geprüft sei, und sie ihn persönlich kennengelernt hatte, gab sie schließlich nach. Sie musste wohl erkannt haben, dass Roger keine Gefahr für mich darstellte, denn auch er war eine Maus. Genau wie ich und Mum trug er das Abzeichen der Kameradschaft der Mäuse an der Brust, und ich spürte sofort eine innere Verbindung zu ihm.
Er war erst siebenundzwanzig, hatte aber durch eine stressbedingte Erkrankung fast alle Haare verloren. Geblieben waren nur zwei raue Flecken knapp über den Ohren. Um das auszugleichen, hatte er sich einen dichten blonden Schnurrbart wachsen lassen. Er war dünn wie ein Magersüchtiger und trug eine runde Schildpattbrille, die seine grünen Augen riesenhaft vergrößerte. Wenn er sprach, hüpfte sein Adamsapfel wie ein hartgekochtes Ei in seiner Kehle auf und ab. Trotz seiner seltsamen Erscheinung fühlte ich mich mit Roger sofort wohl und merkte schnell, welch ein begabter Lehrer er war. Durch seine sanften Erklärungen erschienen mir Dinge, die in der Schule schwer verständlich gewesen waren, auf einmal ganz offensichtlich.
Roger und ich verstanden uns wirklich gut. Er war mehr Freund als Lehrer. Während unserer regelmäßigen
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