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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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Schale mit der Duftmischung auf den Boden fiel, die Geburtstagskarten wie ein Schwarm Pappvögel durch die Luft wirbelten und die Vase mit den getrockneten Blumen auf dem Parkett zerbrach. Die ganze Zeit über brabbelte er sinnloses Zeug, unterbrochen von kindischem Gekicher und wüsten Beschimpfungen.
    »Wonach sucht er, Mum?«, flüsterte ich.
    »Keine Ahnung, Liebes. Vielleicht weiß er es selbst nicht. Keine Sorge. Gleich ist er weg.«
    Während ich auf den sinnlosen Strom der Worte horchte, kam mir die schreckliche Erkenntnis, dass der Einbrecher gar nicht wusste, wo er sich befand, dass er gefangen war in einem Cocktail aus Alkohol und Drogen. All das hier – Mum und ich, zitternd in unseren Bademänteln, die Schubladen, die er achtlos aus dem Schreibtisch riss und auf dem Boden ausleerte – war nur ein Traum für ihn. Es war überhaupt nicht real. Er konnte uns mit seinem Jagdmesser erstechen, und es würde ihm gar nichts ausmachen, weil wir für ihn nicht existierten, weil wir nur Phantome in einem Traum waren. Sein Verstand war woanders, schlief im Drogenrausch. Und ich wusste nur zu gut, was der Schlaf der Vernunft gebar.
    Ich schaute von Mums Schulter auf und sah ihn auf uns zukommen. Er zerrte zwei Stühle vom Esstisch hinter sich her. Dann stellte er sie mit den Lehnen gegeneinander und befahl uns, uns hinzusetzen.
    »Wir spielen Reise nach Jerusalem«, sagte er und lachte los, als hätte er einen besonders guten Witz gemacht.
    »Yeah, genau das, wir spielen Reise nach Jerusalem. So wie in der Schule mit dem Lehrer. La di la di la di la. Stop! Wer kriegt den Stuhl? Ich krieg den Stuhl! Wer kriegt den Stuhl? Ich krieg den Stuhl! La di la di la di la!«
    Mit einer weiteren hektischen Geste des Messers deutete er auf die Stühle. Zögernd ließen wir einander los und gehorchten. Ich bereute es sofort, denn nun konnte ich Mum nicht mehr sehen. Meine Angst wurde schlimmer, und Panik stieg in mir auf. Ich schloss die Augen, holte tief Luft und versuchte, die Hysterie zu verdrängen.
    Der junge Typ stand ein kleines Stück links von mir, schweigend wie ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hat. Wieder zuckten seine Augenlider, und die Augäpfel verdrehten sich nach oben, bis ich nur noch das verfärbte Weiß sehen konnte. Sein Kopf sackte nach vorn. Es sah aus, als wäre er im Stehen eingeschlafen. Das Messer hing schlaff in seiner Hand, er hielt es nur noch mit den Fingerspitzen.
    Ich starte ihn an und erwartete, dass er plötzlich zusammenzuckte, doch es kam nichts. Er blieb reglos stehen wie ein Aufziehspielzeug.
Wenn ich mich jetzt auf ihn stürze, genau jetzt, lässt er das Messer fallen, und Mum kann es aufheben
. Ohne das Messer wäre er nicht mehr die Katze im Mauseloch – höchstens ein Kätzchen, ein krankes, orientierungsloses Kätzchen. Wenn ich mich auf ihn stürzte, während er in Trance war, könnte ich ihm das Messer aus der Hand schlagen. Das könnte ich. Das sollte ich. Das musste ich …
    Doch dann öffneten sich langsam seine Lider, und die graue Iris mit der winzigen Pupille blickte mich unmittelbar an. Er lächelte zerstreut und schmatzte, als wäre er nach langem Schlaf mit einem üblen Geschmack im Mund erwacht. Seine Finger umklammerten das Messer wieder fester. Er wischte sich mit dem Handrücken ein schaumiges Rinnsal ab, das ihm übers Kinn lief.
    Zu spät. Wieder einmal zu spät.
    »Yeah«, sagte er langsam, als ihm wieder bewusst wurde, wo er war. »Yeah – wir spielen Reise nach Jerusalem.«
    Dann suchte er in seiner Tasche und holte ein zerfasertes Seil heraus.

13
    »Sie brauchen uns nicht zu fesseln«, sagte Mum und versuchte, so ruhig und vernünftig wie möglich zu klingen. Dennoch hörte ich die Angst in ihrer Stimme. Wenn er uns fesselte, wären wir ihm vollkommen ausgeliefert; wir könnten nicht weglaufen, wenn er uns mit dem Messer angriff. Wir wären so hilflos wie die Truthähne, die ich Weihnachten auf dem Markt gesehen hatte, jämmerlich zusammengeschnürt in einer schmutzigen Ecke, wo sie auf das Beil des Metzgers warteten.
    »Es ist wirklich nicht nötig«, fuhr Mum fort. »Wir werden nichts unternehmen. Nehmen Sie, was Sie wollen – in dem roten Kasten in meinem Schlafzimmer ist Schmuck, und ich habe Bargeld unter der Matratze – nehmen Sie es. Wir rufen auch nicht die Polizei, versprochen.«
    Der junge Typ stand stocksteif da, das Gesicht seltsam verzerrt. Vielleicht dachte er über ihre Worte nach; vielleicht raste er auf seinem Trip in

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