Mucksmäuschentot
Folter? Welches Verbrechen hatten wir begangen außer, dass wir schwach, dass wir Mäuse waren? Wem hatten wir geschadet, dass wir eine solch erbarmungslose Strafe verdienten? Warum passierte das nicht Teresa Watson und Emma Townley? Warum passierte das nicht den Mädchen, die mich so schlimm gequält hatten, dass ich mir das Leben nehmen wollte? Warum passierte das nicht meinem Dad und Zoe? Warum passierte es uns? Schon wieder? Hatten wir nicht genug gelitten?
»Mum?«
»Ja, Liebes?«
»Mum, das Seil gibt nach. Ich glaube, ich bekomme die Hände frei.«
Dann roch ich wieder den Alkohol und wusste, dass er zurückgekommen war.
14
Er ging mit der prall gefüllten roten Sporttasche an uns vorbei. Es sah aus, als hätte er wahllos alles hineingeworfen, das ihm in die Finger kam – sogar die Familienflasche Shampoo, die aus einer der Seitentaschen hervorlugte.
Er ging ins Esszimmer und fing an, den Nippes vom Sideboard in die Tasche zu fegen. Die ganze Zeit über starrte er mit glasigen Augen an die Wand, als wäre er blind und bemerkte gar nicht, was er tat. Er achtete nicht darauf, wenn eines der winzigen Glastiere oder eine Porzellanfigur auf den Boden fiel, sondern fegte weiter wie ein Automat.
Ich aber konnte nur ungläubig auf das Messer starren. Er hatte das gezahnte Jagdmesser tatsächlich auf dem Tisch liegen lassen.
Er war unbewaffnet.
Ich hatte jetzt die Hände frei. Ich legte sie locker in den Schoß, das Seil noch herumgewickelt, und begann, an meinen Beinen zu arbeiten. Das Seil musste uralt sein, und als ich die Knöchel auseinanderdrückte, spürte ich, wie die Fasern nacheinander durchrissen.
»Mum!«, zischte ich und drehte mich um, bis meine Lippen fast ihre Wangen berührten. »Das Seil ist so alt, dass –«
»Hey!«
Ich zuckte zusammen, als wäre ein Feuerwerkskörper unter mir explodiert. Er glotzte mich an und fletschte die Zähne wie ein hässlicher Hund.
»Klappe!«, schrie er. Die Adern an seiner Stirn traten hervor, und Speichel sprühte wie ein feiner Regen aus seinem Mund. Er schrie so laut, dass das Wort noch lange wie ein Echo im Raum nachhallte.
Als er nichts mehr fand, das er in die Tasche stopfen konnte, kam er zu uns herüber. Das Messer lag noch immer hinter ihm auf dem Tisch. Er trat vor uns und wiegte sich schwankend vor und zurück. Im hellen Licht der Deckenlampe glänzte seine Haut vor Schweiß, und er war totenblass. Sein Gesicht war schmerzverzerrt wie das eines Kindes, das bei einem Geburtstag zu viel gegessen hat, unter furchtbarem Bauchweh leidet und sich jeden Moment übergeben muss. Ich konnte die Haare an Kinn und Oberlippe erkennen – keine männlichen Stoppeln, sondern die hässlichen, kümmerlichen Härchen eines Heranwachsenden.
»Ich geh jetzt.«
Aber er rührte sich nicht. Er stand schwankend vor uns, während das schon vertraute Flattern der Augenlider aufs Neue begann und seine Augen sich wie bei einem Epileptiker verdrehten, der kurz vor einem Anfall steht. Sein Kopf sank auf die Brust, und dann kippte er ganz langsam nach vorn. Als die Tasche auf den Boden prallte, kam er zu sich, aber es war zu spät. Er fiel schwer gegen mich. Sein schmieriges Gesicht strich an meinem entlang, und ich atmete seinen widerlichen Atem ein. Er hielt sein Gesicht nah an meins und lachte leise vor sich hin, genoss die Angst und den Ekel, die er in mir hervorrief. Ich hielt die Hände eng beieinander und betete, dass er nichts merkte.
»Bisschen kuscheln?«, fragte er.
Ich kniff die Augen zu und biss die Zähne zusammen, machte mich innerlich bereit. Doch es kam nichts. Er richtete sich auf.
»Ich will nicht mit dir kuscheln. Du bist eine hässliche, hochnäsige Schlampe.«
Ich öffnete einen Spalt weit die Augen und sah seine olivgrüne Gestalt neben mir.
»Was ist das –«, er schnitt eine Grimasse, »– was ist das für eine
Scheiße
in deinem Gesicht?«
Ich konnte nichts sagen. Meine Angst war so groß, dass ich es kaum noch ertragen konnte. Mir war, als würde mein hämmerndes Herz jeden Moment stehenbleiben und ich vor Angst sterben, wie es bei Tieren vorkam, noch bevor die Jagdhunde die Zähne in sie schlugen.
»Na, was ist das?«
Stille. Eine lange, unbehagliche Stille.
»Was ist das?«
»Sie hatte einen Unfall in der Schule«, antwortete Mum.
Mit einer Schnelligkeit, die ich ihm nicht zugetraut hatte, schoss er herum und versetzte ihr einen heftigen Schlag ins Gesicht. Ich spürte, wie ihr ganzer Körper zur Seite geschleudert
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