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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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Geburtstag an und langten zu. Dabei spielten wir das übliche Spiel mit den Höhe- und Tiefpunkten. Mum hatte den Prozess gegen eine örtliche Busgesellschaft gewonnen, womit sie nie gerechnet hatte; Blakely hatte sie im Beisein von Brenda und Sally angeschrien, weil sie ihm morgens die falsche Akte ins Gericht gebracht hatte (übrigens genau die Akte,
die er verlangt hatte
). Ich hatte mit den Gleichungen gekämpft, die Mrs Harris mir am Nachmittag aufgegeben hatte, und nur drei von zehn richtig gelöst; ich hatte aus unserem Goya-Buch das Gemälde mit dem Titel
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
abgemalt, und obwohl die Beine des Mannes, der am Schreibtisch eingeschlafen ist, ein bisschen zu kurz ausgefallen waren, war ich mit den Eulen, Fledermäusen und Katzen, den
Ungeheuern
, die sich drohend anschlichen, sehr zufrieden.
    Während des Essens merkte ich, wie Mum mich anschaute.
    »Was ist?« Seitdem ich die Narben hatte, reagierte ich sehr empfindlich auf Blicke.
    »Nichts«, erwiderte sie verträumt. »Ich kann nur nicht fassen, dass mein kleines Mädchen morgen sechzehn wird. Sechzehn! Mir kommt es vor, als hätte ich dich gestern noch gestillt.«
    »Bitte, Mum, ich
esse

    »Die Zeit vergeht so schnell.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Du hattest immer einen gesunden Appetit, hast nie nein zu meiner Brust gesagt.«
    »Mum, du willst doch nicht schon wieder in Erinnerungen schwelgen, oder?«
    »Nicht wenn es dir peinlich ist – vielleicht solltest du lieber noch einen zur Brust nehmen …«
    Ich hatte gerade einen Schluck Wein im Mund und erstickte beinahe vor Lachen. Als ich mich erholt hatte, schaute sie wieder so verträumt.
    »Morgen wird gefeiert, Shelley. Wir gehen in ein richtig nettes Restaurant.«
    »Das ist nicht nötig, Mum.«
    »Und ob.« Sie malte mit dem Zeigefinger nachdenklich in einer kleinen Weinpfütze. Dann bekam sie feuchte Augen.
    »Ich möchte mich entschuldigen, Shelley.«
    »Wofür?«
    »Weil ich dich im Stich gelassen habe. Weil ich dich nicht vor diesen
furchtbaren
Mädchen beschützt habe.«
    Meine Antwort klang so gepresst, dass sie kaum zu hören war. »Du hast es doch nicht gewusst.«
    »Das ist es ja gerade. Du hättest zu mir kommen müssen.«
    Ich malte mit den Gabelzinken Muster in meine Soße.
    »Warum hast du geglaubt, du könntest es mir nicht sagen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich achselzuckend. »Ich war – irgendwie – gelähmt. Und es war mir peinlich.«
    »Weißt du, das hat mir mehr weh getan als alles andere – dass du dich mir nicht anvertrauen konntest. Es war
meine Schuld
. Nach der Scheidung habe ich mich immer noch selbst bemitleidet und nur mit der Arbeit beschäftigt. Ich habe dich ausgeschlossen.«
    Ich wusste, dass es nicht ihre Schuld gewesen war. Immerhin hatte
ich
beschlossen, das
Mobbing
vor ihr geheim zu halten. Gleichzeitig tat es aber ungemein gut, dass sie die Schuld auf sich nahm.
    »Manchmal wünsche ich, du wärst mir nicht so ähnlich, Shelley.«
    »Sag das nicht, Mum.«
    »Ich meine, ich wünschte, du wärst mehr wie – hättest eher sein können wie –« Sie fand nicht die richtigen Worte. Was immer sie sagen wollte, war zu kompliziert und zu heikel. Sie gab es auf und schaute mich flehend an. »Die Welt ist so
hart
, Shelley!«
    Sie wischte sich über die Wange, als hätte sie geweint, und versuchte zu lächeln. Dann plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, als wäre ihr ein so schwerwiegender Gedanke gekommen, dass er sie quasi in den Stuhl drückte. »Vielleicht war es falsch hierherzuziehen. Vielleicht hätte ich dich nicht aus der Schule nehmen sollen. Womöglich wäre es besser gewesen, sich zu stellen –«
    »Nein!«
Panik überfiel mich. »Ich will nicht wieder in die Schule!«
    Mum griff über den Tisch nach meinen Händen. »Das musst du auch nicht. Das musst du nicht.«
    Sie drückte meine Hände so fest, dass es weh tat. »Ich lasse dich nicht mehr im Stich, Shelley, das verspreche ich dir.«
    Ihr durchdringender Blick verunsicherte mich, und ich wandte mich ab. Als ich sie wieder ansah, war er zum Glück einem sanften, nachdenklichen Lächeln gewichen.
    »Du sollst wissen, wie stolz ich auf dich bin«, sagte sie. »Wie stolz ich darauf bin, wie du mit den ganzen schrecklichen Dingen umgegangen bist.«
    »Mum.«
    »Ich meine es ernst. Du warst wunderbar. Ruhig und vernünftig. Keine Hysterie, kein Selbstmitleid. Wir gehen richtig schön essen. In ein ganz schickes Restaurant,

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