Mucksmäuschentot
einverstanden?«
Kein Selbstmitleid.
Ich dachte an den Gürtel des Bademantels und den Balken in der Garage, an den Dad früher seinen Boxsack gehängt hatte … erwähnte sie aber nicht.
»Einverstanden, Mum.« Ich lächelte. »Einverstanden.«
Nach dem Abendessen spielten wir noch ein Duett aus unseren
Russischen Volksliedern
namens »Zigeunerhochzeit«, mit dessen schnellem, stampfendem Rhythmus ich nicht Schritt halten konnte. Wann immer Mum zur Hälfte durch war, blieb ich hoffnungslos zurück und musste loskichern. Ich machte zahllose Fehler, und je mehr Fehler ich machte, desto mehr mussten wir lachen.
An diesem Abend waren wir beide sehr müde. Mum schlief noch vor den Zehn-Uhr-Nachrichten ein. Sie berichteten nur über einen langweiligen politischen Skandal, den ich mir nicht antun wollte. Ich umarmte Mum, küsste sie und ging ins Bett.
Ich lag lange wach und horchte auf den Regen, der gegen das Fenster prasselte, genoss die letzten Augenblicke meines Lebens als Fünfzehnjährige. Morgen früh würde ich sechzehn sein.
Süße sechzehn und noch nie geküsst,
hieß es. Auf mich traf das zu. Ich war
tatsächlich
noch nie geküsst worden.
Und zum ersten Mal im Leben wollte ich es. Ich wollte einen Freund haben. Ich wollte geküsst werden. Vielleicht würden meine Narben verheilen, wenn ich sechzehn war, dann könnte ich jemanden kennenlernen. Einen gutaussehenden Mann wie George Clooney, aber mit der jungenhaften Unschuld des frühen Tom Hanks; einen treuen und aufrichtigen Mann, der einen nicht verließ, wenn die ersten Krähenfüße kamen …
Etwas regte sich in mir und erwachte zum Leben, so wie der Garten von Honeysuckle Cottage vor meinem Fenster im sanften Frühlingsregen zum Leben erwachte, grüne Schösslinge sprießen ließ, verklebte Knospen und jungfräuliche Blütenblätter öffnete. Wenn ich aufwachte, würde ich sechzehn sein.
Alt genug zum Heiraten,
hatte Mum neulich gesagt. Mir war, als stünde ich an der Schwelle zu neuen aufregenden Erfahrungen, neuen Emotionen, neuen Beziehungen, und ich sehnte mich danach wie der Schmetterling in der Puppe sich sehnt, seine zerbrechlichen Flügel auszubreiten und zu fliegen.
Und so versank ich in einen süßen, köstlichen Schlaf.
12
Ich riss die Augen auf und war sofort wach. Obwohl ich ganz, ganz tief geschlafen hatte, drang das unmissverständliche Knarren der vierten Treppenstufe bis in mein Gehirn. Ich war sicher, dass ich mich nicht verhört hatte, und wusste auch, was es bedeutete:
Jemand war im Haus.
Die Leuchtanzeige meines Weckers stand auf 3.33 Uhr.
Mein Herz hämmerte in meiner Brust, als führte es ein Eigenleben, als wäre es ein Kaninchen, das sich in einer Schlinge wand, die sich immer fester zusammenzog, je mehr es kämpfte. Das Rauschen in meinen Schläfen war so laut, dass ich angestrengt horchen musste. Ich horchte, was sich vor meiner Schlafzimmertür tat – auf dem Treppenabsatz und den Stufen –, und es kam immer dieselbe Information:
Stille, Stille, Stille, wir hören nur Stille, da ist nichts.
Hatte ich mich geirrt? Nein, dessen war ich mir sicher. Die vierte Treppenstufe hatte unter dem Gewicht eines Menschen geknarrt.
Nach einer Ewigkeit knarrte eine andere, höhere Stufe:
Jemand war im Haus.
Ich war wie gelähmt vor Angst. Meine Augen waren offen, doch ansonsten hatte ich keinen Muskel bewegt. Ein primitiver Instinkt befahl mir, mich absolut still zu verhalten und keinen Laut von mir zu geben, bis die Gefahr vorüber sei. Ich atmete so langsam und flach, dass es nicht zu hören war und die Decke sich keinen Millimeter hob und senkte. Ich dachte an den Schlagball-Schläger, den ich unter dem Bett aufbewahrte, falls »Einbrecher kamen«, fand aber nicht die Kraft, nach ihm zu greifen. Etwas Stärkeres hielt mich zurück.
Lieg still,
befahl es mir,
mach kein Geräusch, bis die Gefahr vorbei ist.
Die Schritte kamen näher – lauter jetzt, als gäbe sich der Eindringling keine Mühe mehr, leise zu sein. Ich hörte, wie ein Körper schwer gegen die Vitrine auf dem Treppenabsatz polterte
(betrunken?)
und jemand fluchte
(ein Mann)
.
Ich hörte, wie sich Mums Schlafzimmertür öffnete, und merkte, dass er das Licht einschaltete, denn die völlige Dunkelheit in meinem Zimmer wurde minimal heller. Ich hörte Mums Stimme. Schläfrig. Verwirrt. Ängstlich. Dann die des Mannes, ein aggressives, kehliges Grunzen, das mehr tierisch als menschlich klang. »Warten Sie«, hörte ich Mum deutlich sagen. »Mein
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