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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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ihrem Geburtstag gestorben? Eine echte Ironie des Schicksals. Ich wollte schon etwas sagen, besann mich aber eines Besseren. Meine morbiden Überlegungen würden uns nicht weiterhelfen.
    Ich betrachtete die Bücherregale rechts und links des Kamins. Sie waren alle da –
Shakespeares gesammelte Werke, Krieg und Frieden, Madame Bovary, Verbrechen und Strafe, Stolz und Vorurteil, Don Quichotte, Oliver Twist, Die Elenden
 – eine würdige Sammlung von Klassikern der westlichen Literatur, dichtgedrängt in den Regalen aus Walnussholz. Darüber standen unsere Kunstbücher – gewaltige Bildbände über Renaissance, Impressionisten, Moderne, Degas und Vermeer, Michelangelo, Turner und Botticelli. In unserer »Musikabteilung« standen alphabetisch aufgereiht von Bach bis Wagner die dreißig Bände von
Das Leben der großen Komponisten
, die wir in einem Buchclub bestellt hatten.
    Ja, da waren sie, die Götter und Göttinnen aus Kunst, Literatur und Musik. Alle Gottheiten der Mittelklassekultur. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich bei ihrem Anblick keine Ehrfurcht und Bewunderung, sondern Abscheu. Mehr als Abscheu –
Ekel
. Ich hätte am liebsten gekotzt.
    Denn es waren alles Lügen. Ein einziger gigantischer Schwindel. Sie taten, als ginge es um das Leben –
das wirkliche Leben
 –, doch damit hatten sie nicht das Geringste zu tun. Das wirkliche Leben hatte nichts mit Romanen oder Gedichten zu tun, mit Landschaften in Öl oder abstrakten Gemälden mit roten und gelben Quadraten, es hatte nichts damit zu tun, wie sich Töne zu einer harmonischen Melodie fügten.
    Das wirkliche Leben war das absolute Gegenteil von Ordnung und Schönheit; es war Chaos und Leid, Grausamkeit und Schrecken. Es hieß, dass dein Haar angezündet wurde, obwohl du niemandem etwas getan hattest; es hieß, dass man von Terroristen in die Luft gesprengt wurde, wenn man seine Kinder zur Schule brachte oder in seinem Lieblingsrestaurant saß; es hieß, dass man wegen der mageren Rente, die man vielleicht gerade von der Bank abgeholt hatte, in einer dunklen Straße zu Tode getreten wurde; es hieß, von betrunkenen Fremden vergewaltigt zu werden; es hieß, dass ein Drogensüchtiger, der in ein Haus eingebrochen war, um Geld zu stehlen, dir die Kehle durchschnitt. Im wirklichen Leben wurden Tag für Tag Unschuldige massakriert. Es war eine Abdeckerei, ein Schlachthof, übersät von den Leichen zahlloser Opfermäuse …
    Die ganze Kultur und Kunst war nur ein Trick, der es uns erlaubt, uns Menschen als edle, intelligente Wesen zu betrachten, die ihre tierische Vergangenheit längst überwunden und sich zu etwas Besserem und Reinerem entwickelt hatten. Und weil sie malen und schreiben konnten wie Engel,
waren
sie Engel. Doch die Kunst war nur ein Schirm, hinter dem sich die hässliche Wahrheit verbarg – dass wir uns überhaupt nicht verändert hatten, dass wir immer noch dieselben Wesen waren, die mit scharfen Steinen in die warmen Bäuche ihrer Beutetiere geschnitten und ihren Zorn an den Schwachen ausgelassen hatten, indem sie sie mit einer stumpfen Keule traktierten. Hübsche Bilder und kluge Gedichte veränderten unsere wirkliche Natur kein bisschen.
    Nein – Kunst, Musik und Dichtung hatten nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Sie waren nur ein Zufluchtsort für Feiglinge, eine Täuschung für jene, die zu schwach waren, um der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Indem ich diese ganze Kultur in mich aufgenommen hatte, hatte ich mich schwach gemacht, schwach und hilflos und unfähig, mich gegen die menschlichen Bestien zu verteidigen, die den Dschungel des 21 . Jahrhunderts bevölkerten.
    »Er wird uns töten, Mum. Das weiß ich genau.«
    »Shelley, du musst ruhig bleiben. Tu einfach, was er sagt.«
    »Begreifst du nicht, in welcher Gefahr wir uns befinden? Er ist im Drogenrausch!
Er wird uns töten!
«
    Was für eine Gerechtigkeit war das? Welcher Gott würde so etwas zulassen? Hatten Mum und ich nicht genug gelitten? Dad hatte uns im Stich gelassen, während er sich mit seiner vierundzwanzigjährigen Schlampe in der spanischen Sonne aalte. Ich war so schlimm gemobbt worden, dass ich die Schule verlassen musste und zu Hause unterrichtet wurde. Mein Gesicht trug die Narben, die die Bosheit anderer hinterlassen hatte. Und nun brach diese wandelnde Zeitbombe ausgerechnet in unser Haus ein, als wir uns gerade ein neues Leben aufbauen wollten und alles sich zum Guten zu wenden schien.
    Was mussten wir noch erdulden? Vergewaltigung?

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