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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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war einfach zu erschöpft. Außerdem war ich ohnehin schon mit seinem Blut bedeckt. Meine Hände waren glitschig davon, mein Haar verfilzt, mein Nachthemd bespritzt und befleckt, mein Frotteebademantel vollgesogen wie ein Schwamm, mein Mund von seinem scharfen, metallischen Geschmack erfüllt.
    Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es 5.13  Uhr.
    Ich wollte etwas sagen, doch drang nur ein Krächzen aus meiner brennenden Kehle. Dann versuchte ich es noch einmal, und es fiel mir leichter.
    »Mum?«
    Sie saß gedankenverloren am Tisch, den Kopf noch immer auf die Unterarme gestützt, als wäre er unsagbar schwer. Sie blickte hoch, doch ihre Augen mussten erst zurück in die Gegenwart finden.
    »Mum, solltest du nicht die Polizei rufen?«
    Sie lächelte traurig und schüttelte den Kopf. »Darüber denke ich gerade nach, Liebes.«
    Ich verstand nicht, was sie damit meinte, und glaubte, sie stünde unter Schock. »Wir müssen die Polizei rufen, Mum«, sagte ich sanft. »Wir müssen sagen, was passiert ist. Dann rufen sie einen Krankenwagen. Ich muss ins Krankenhaus – mein Hals – der Schmerz bringt mich um.«
    Doch sie ging nicht zum Telefon. Sie blieb am Küchentisch sitzen, die nackten Füße auf die Streben des Nachbarstuhls gestützt, damit sie nicht in die geronnene Lache gerieten. Ihre rechte Gesichtshälfte war geschwollen, das Auge halb geschlossen und von schwarzen und violetten Flecken umgeben. Sie sah gar nicht mehr aus wie sie selbst – es war, als schaute ich einen fremden Menschen an.
    »Mum?«, fragte ich noch einmal. »Die Polizei? Ich muss ins Krankenhaus.«
    Doch sie bewegte sich noch immer nicht in Richtung Telefon.
    »Shelley …«
    »Hm?«
    »Was ist passiert, als du in den Garten gelaufen bist? Ich konnte dich nicht sehen – ich musste noch meine Beine losbinden. Ich habe nur gesehen, wie du das Messer genommen hat. Was ist dann passiert?«
    »Ich habe ihn gestochen«, erwiderte ich.
    »Wo?«
    »In den Rücken.«
    »War er bewaffnet?«
    »Nein.«
    »Wie oft hast du zugestochen, bevor ich euch in der Küche gefunden habe?«
    »Ich weiß nicht … oft … oft. Mum, wann rufst du endlich die Polizei?«, stöhnte ich.
    Ihre Antwort überraschte mich völlig.
    »Ich will nicht ins Gefängnis, Shelley.«
    »Wovon redest du eigentlich?«, krächzte ich. »Was meinst du mit
Gefängnis

    »Ich will nicht ins Gefängnis«, wiederholte sie kalt. »Und du auch nicht.«
    »Wovon redest du, Mum? Du musst doch nicht ins Gefängnis. Er ist in unser Haus eingebrochen. Er hatte ein Messer. Wir haben uns verteidigt, um Gottes willen. Er wollte mich erwürgen – wärst du nicht gekommen, hätte er mich
getötet

    Ich fand ihr Verhalten jämmerlich. Ich wollte Hilfe. Ich wollte ins Krankenhaus, damit der Schmerz in meinem Hals aufhörte. Ich wollte, dass man das klebrige, säuerliche Blut von mir abwusch. Ich wollte wieder sauber sein und nach Seife und Talkumpuder riechen und in einem frischen, kühlen Krankenhausbett liegen und von den Schwestern verwöhnt werden. Vor allem aber wollte ich schlafen, stundenlang schlafen und das Grauen vergessen, das ich soeben durchlebt hatte …
    Als ich wieder zu Mum schaute, begann sie zu meiner Verwunderung zu lachen – kein glückliches Lachen, sondern trübsinnig und verbittert.
    »Wenn es so einfach wäre, Shelley … aber das ist es nicht.« Geduldig sammelte sie sich, bevor sie weitersprach. »Er hatte das Haus schon verlassen, als du ihm nachgelaufen bist. Er war unbewaffnet –«
    »Unbewaffnet!«,
rief ich ungläubig. »Er ist ein Mann. Ich bin nur ein Mädchen.«
    »Das ist unerheblich! Er war dabei, das Haus zu verlassen.
Du
hattest ein Messer,
er
nicht.«
    »Mum, das ist doch lächerlich. Es war Notwehr. Er hat uns gefesselt. Er hat dich ins Gesicht geschlagen. Ich wusste nicht, ob er wirklich weg war oder zurückkommen und uns töten wollte. Er war schon einmal zurückgekommen – da wollte ich kein Risiko eingehen. Die Polizei würde sich niemals gegen uns stellen …«
    »Shelley, ich bin Anwältin. Ich weiß, wovon ich rede. Wenn wir die Polizei rufen, wird die Spurensicherung dieses Haus Zentimeter für Zentimeter durchkämmen. Sie werden bald herausfinden, dass er schon
draußen
war, als du ihn angegriffen hast. Dann müssen wir zugeben, dass du das Messer hattest und er unbewaffnet war. Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben, als uns anzuklagen –«
    »Uns anklagen? Weswegen?«
    »Wegen Mordes.«
    »Wegen
Mordes
?« Ich

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