Mucksmäuschentot
an, die Hand auf dem Oberschenkel, als spielte er Gitarre, während der rechte Arm hoch über den Kopf ausgestreckt war wie bei einem eifrigen Schüler, der die Antwort auf eine schwierige Frage weiß.
Und vielleicht weiß er wirklich die Antwort auf eine schwierige Frage,
dachte ich,
die schwierigste Frage von allen – was geschieht mit uns, wenn wir sterben?
Die flache Grube, die wir ausgehoben hatten, war nicht lang genug für den steifen rechten Arm. Unterarm und Hand ragten aus der Erde wie eine groteske fünfblättrige Blume. Statt weiterzugraben, stieg Mum vorsichtig in das Loch und versuchte, den Arm zu verbiegen. Die Leichenstarre hatte eingesetzt, und er entglitt ihrem Griff und richtete sich wieder gerade, als würde der Einbrecher absichtlich Widerstand leisten – noch im Tod.
Als Mum aus dem Loch kletterte, war sie furchtbar blass.
Wir schaufelten Erde auf ihn. Ich begrub seine Füße (einen im Turnschuh, den anderen in einer durchlöcherten grünen Socke), seine Beine, seine linke Hand, seine Taille, brachte es aber nicht über mich, Erde auf sein Gesicht zu werfen. Als ich sah, wie Mum einen ganzen Spaten voll auf sein Gesicht kippte, zuckte ich zusammen
(er bekäme Dreck in die Augen – Dreck in den Mund!)
und verfluchte mich, weil ich so ein Schwächling war.
Er kann nichts fühlen – er ist tot!
Als wir fertig waren, hatten wir den jungen Typen vom Angesicht der Erde verschwinden lassen. Da war Honeysuckle Cottage mit dem hübschen Vorgarten, da war das ovale Rosenbeet, dessen Sträucher schon die ersten rosa Knospen zeigten. Und keine Spur mehr von der Leiche.
Wir stützten uns auf die Spaten, trunken vor Erschöpfung, und rasteten einen Moment, bevor wir uns an die nächste furchtbare Aufgabe machten – die Küche zu reinigen.
Da hörte ich das Geräusch. Weich, gedämpft, eine Reihe musikalischer Töne wie von einem Vogel oder einem Insekt. Es verstummte und ertönte ein paar Sekunden später erneut. Mum und ich schauten uns verwirrt an. Das Geräusch hörte auf. Begann wieder. Ich sah mich zwischen Büschen und Blumenbeeten um, und dann dämmerte es mir. Ich kannte die Melodie. Ich hatte sie schon oft gehört, auf der Straße, in Cafés, Restaurants, Zügen …
Es war der Klingelton eines Handys. Und er kam aus dem ovalen Rosenbeet.
18
Das Handy des Einbrechers musste mehr als zwanzigmal geklingelt haben, bevor es endlich aufhörte. Mir wurde klar, dass ich die ganze Zeit über die Fäuste geballt und die Zähne zusammengebissen hatte, als erduldete ich einen furchtbaren körperlichen Schmerz.
Mum fluchte selten, aber dies war so ein Fall. Sie stieß ein Stakkato hässlicher Schimpfwörter hervor.
»Oh, mein Gott!«, jammerte ich.
»Ohmeingott!«
Entsetzt starrten wir beide auf das Rosenbeet, als hätte sich die Erde zu einem Mund geformt und zu sprechen begonnen.
»Was machen wir jetzt, Mum? Was sollen wir nur machen?«
Mum brauchte lange, bis sie antwortete. »Wir müssen ihn wieder ausgraben. Wir müssen das Telefon rausholen. Wir können nicht riskieren, dass es noch einmal klingelt, jemand könnte es hören … Außerdem kann die Polizei es nachverfolgen und den genauen Standort finden. Wir müssen es rausholen.«
Sie raufte sich die Haare. »
Verdammt!
Ich hätte seine Taschen durchsuchen sollen! Wie konnte ich das nur vergessen?«
Die Vorstellung, die Leiche wieder auszugraben und ihre Taschen zu durchsuchen, war zu viel für mich. Ich ließ mich ins Gras fallen.
Mum schaute mich über die Schulter an. Ich kämpfte mit den Tränen. Mir war unnatürlich heiß, geradezu fiebrig. Ich war kurzatmig, doch selbst wenn ich tief einatmete, schien es nicht zu helfen. Ich wollte das Gesicht nicht mehr sehen. Ich wollte nicht mehr das Gesicht mit dem Dreck in Mund und Augen sehen. Ich konnte es nicht ertragen …
»Ich mache es, Shelley«, sagte sie, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Aber uns bleibt nicht viel Zeit. Geh rein, nimm den Wischmop aus dem Küchenschrank und fang schon mal mit dem Boden an. Nirgendwo sonst hingehen –
du musst unbedingt in der Küche bleiben
– sonst tragen wir das Blut durchs ganze Haus.«
»Okay, Mum«, sagte ich im Flüsterton, bewegte mich aber nicht. Ich wurde niedergedrückt von unserem sinnlosen, dummen, starrköpfigen Tun.
»Vielleicht sucht man schon nach ihm, Mum. Jemand hat ihn angerufen. Damit kommen wir niemals durch. Die werden uns erwischen!«
Als sie mich ansah, wirkte ihr Gesicht mit den Blutergüssen
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