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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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konnte.
    »Wie können Sie es wagen?«,
zischte ich und zerknüllte unbewusst das Papier, auf dem ich geschrieben hatte.
    Mrs Harris starrte mich verblüfft an, als hätte ihr braves Schoßhündchen sie plötzlich in den Finger gebissen. Ich spürte, wie sich mein Gesicht in unbezähmbarem Zorn verzerrte.
    »Wie können Sie es wagen?«, brüllte ich ihr ins Gesicht. »Ich habe acht Monate lang die Hölle durchgemacht! Ich wurde jeden Tag angegriffen. Man hat mich angezündet! Ich hätte sterben können! Was meinen Sie mit sogenanntes Mobbingopfer?«
    Mein Zorn war so groß, dass meine Worte nicht mit ihm Schritt halten konnten. Er hatte sich derart in mir aufgestaut, dass ich ihn nun, da die Dämme gebrochen waren, gar nicht in Worte fassen konnte. Mein Ausbruch endete in zusammenhanglosem Gestammel.
    Mrs Harris’ Reaktion überraschte mich. Ich hatte erwartet, dass sie sich hochmütig und entrüstet geben und eine giftige Antwort parat haben würde, die mich in Tränen ausbrechen ließe. Doch statt in selbstgerechten Zorn zu verfallen, legte sie die Finger an die Lippen, als könnte sie nicht glauben, was sie gesagt hatte.
    »Es tut mir leid, Shelley. Es tut mir – so leid!« Ihre sommersprossige Hand bewegte sich in einer unbeholfenen, versöhnlichen Geste über den Tisch. Dann zog sie sie in den Schoß zurück. »Ich wollte das, was du durchgemacht hast, nicht verharmlosen. Das war dumm und taktlos von mir. Ehrlich gesagt, hatte ich vergessen, mit wem ich spreche.«
    Mein Zorn legte sich allmählich, und wir machten mit dem Unterricht weiter, waren aber beide zerstreut und überaus erleichtert, als es endlich halb fünf war. An der Tür entschuldigte sich Mrs Harris noch einmal und wünschte mir alles Gute zum Geburtstag.
    Ich sah sie wegfahren und freute mich trotz der traumatischen Erfahrungen dieses Tages, dass ich mich endlich behauptet und es mit einem so harten Knochen wie ihr aufgenommen hatte. Ich wusste, dass sie vermutlich nur zurückgerudert war, weil sie fürchtete, dass die Behörden von ihren zynischen Bemerkungen über »Drückeberger« und »Weichlinge« erfahren könnten. Dann wäre es vorbei mit den fetten monatlichen Schecks. Dennoch hatte ich einen Sieg errungen. Sie hatte den ungeordneten Rückzug angetreten; die furchterregende Mrs Harris war also doch nur ein Papiertiger. Ich lächelte triumphierend – doch als mein Blick in den Vorgarten fiel, erstarb das Lächeln auf meinen Lippen.

23
    Erst als ich allein im Haus war, fiel mir die Brieftasche des Einbrechers wieder ein.
    Ich konnte dem Drang, seinen Namen zu erfahren, einfach nicht widerstehen. Es war mehr als Neugier. Mir war, als würde er etwas von seinem Schrecken verlieren, wenn ich seinen Namen wüsste.
    Immerhin würde ein Name den Einbrecher im alltäglichen Leben, in der Realität verankern. Er wäre Joe Bloggs oder David Smith, eine Person, ein Individuum – und ein jämmerliches zudem. Ohne Namen wäre er irgendwie grenzenlos; er könnte wie ein giftiger Nebel in alle Bereiche meines Lebens dringen und sie verseuchen. Er wäre der schwarze Mann, ein Sammelbecken für alle Ängste, die mich den Rest meines Lebens verfolgen würden. Wenn ich nur seinen Namen herausfinden könnte, wäre es, als würde man mitten in einem Horrorfilm das Licht einschalten.
    Mum würde erst in einigen Stunden nach Hause kommen, ich konnte mir also Zeit lassen.
    Ich ging ins Gästezimmer. Inzwischen wusste ich, in welchen Beuteln die Bademäntel, die Gummistiefel und die rote Sporttasche waren. Ich suchte nach dem ersten Beutel mit dem zerbrochenen Geschirr und der Fußmatte. Er klemmte hinter Mop und Eimer. Mum hatte einen ihrer gemeinen kleinen Knoten geknüpft, für die ich eine Ewigkeit brauchte. Mein Appetit, den ich vor neun Stunden für immer verloren geglaubt hatte, meldete sich mit großer Heftigkeit zurück.
    Ich musste die Fußmatte beiseiteschieben, um in den Beutel zu schauen. Da war die Brieftasche, ganz unten. An der Fußmatte klebte ein graues, gallertartiges Zeug, das vermutlich aus dem Kopf des Einbrechers gesickert war, als wir ihn aus der Küche geschleift hatten. Ich konnte nicht hinsehen und drehte mich zur Wand, während ich wie blind nach der Brieftasche tastete. Dann schlossen sich meine Finger darum und zogen sie heraus.
    Es war ein komisches Gefühl, etwas in der Hand zu halten, das dem Einbrecher gehört hatte – das in seiner Tasche gesteckt hatte, während ich ihn erstochen hatte. Es war, als hätte ich ihn

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