Mucksmäuschentot
ich länger bleibe, und ich habe mich geweigert. Das hat ihm nicht gefallen.«
Vermutlich übertrieb sie. Ich hatte noch nie erlebt, dass Mum mit
irgendjemandem
Streit hatte.
»Hat jemand was zu deinem Auge gesagt?«
»Sally hat mich gefragt, warum ich geschminkt bin.«
»Was hast du geantwortet?«
»Ich hätte beschlossen, mir einen neuen Mann zu suchen.«
»Und?«
»Sie hat gesagt, es gebe da einen supertollen Strafrechtler namens Blakely, der noch zu vergeben sei.«
Wir kicherten. Doch unser Kichern verstummte, als wir uns daran erinnerten, mit welcher Last wir von nun an leben mussten.
Wir schwiegen lange, tranken Tee und starrten ins Leere, als wären wir gerade erst aufgewacht. Ab und an erklang aus dem Garten der geisterhafte Schrei einer Eule.
»Mum?«
»Ja, Shelley?«
»Was passiert jetzt, Mum?«
Sie vergrub das Gesicht in den Händen und bewegte sie hin und her, als würde sie sich waschen. Als sie mich wieder anschaute, wirkte sie unsagbar müde.
»Ich weiß es nicht, Shelley, ich weiß es wirklich nicht. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, aber ich weiß es wirklich nicht.«
Draußen schrie wieder die Eule – ein langes, klagendes Vibrato –, und ich dachte an die Leiche, die dort draußen in dem ovalen Rosenbeet lag.
Ich griff nach Mums Hand und drückte sie ganz fest.
»Mum?«
»Ja, Liebes?«
»Darf ich heute bei dir schlafen?«
»Ja, natürlich, mein Schatz.«
In jener Nacht träumte ich, ich arbeitete mit Roger am Esstisch, als die Polizei kam. Draußen war es dunkel, und als ich die Haustür öffnete, blendete mich ihr Blaulicht. »Licht aus!«, schrie ich. »Sehen Sie nicht, dass ich blutunterlaufene Augen habe?« Polizisten mit Gasmasken und Schrotflinten führten Mum und mich aus dem Haus. Roger trat an die Tür und rief mit schwacher Stimme: »Sie können sie doch nicht mitnehmen – ist Ihnen nicht klar, dass sie in zwei Monaten sehr wichtige Prüfungen hat?« Mum und ich trugen orangefarbene Overalls wie die amerikanischen Gefangenen, die ich aus dem Fernsehen kannte; unsere Beine waren an den Knöcheln zusammengekettet und unsere Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. »Warum tragen Sie Gasmasken?«, fragte Mum einen der Polizisten. »Der Gestank!«, brüllte er. »Der Gestank des Todes! Wenn Sie ihn nicht riechen, beweist das, dass Sie schuldig sind!«
Jemand lachte, und ich sah den Einbrecher aus dem Rosenbeet aufstehen. Er war unverletzt, so wie ich ihn das erste Mal oben an der Treppe gesehen hatte, nur dass seine olivgrüne Bomberjacke mit leuchtend roten Schleifen verziert war, deren lange Enden sich auf dem Boden zu seinen Füßen kringelten. Als er mich sah, trat ein harter, mörderischer Ausdruck in sein Gesicht. »Das waren die Eier«, sagte er, »du hässliche, hochnäsige Schlampe. Die waren nicht mehr gut.« Sein Handy klingelte, und er griff in die Tasche. »Entschuldigung, ein Anruf.« Er steckte einen Finger ins Ohr, um besser zu hören, und schlenderte zum Haus.
Die Polizisten stießen uns in einen gepanzerten Bus und fuhren die Einfahrt hinunter. Durchs Fenster sah ich ein Auto, das auf der schmalen Straße parkte, und eine schattenhafte Figur, die hinter dem Steuer wartete. Plötzlich blitzten die Scheinwerfer auf, der Motor heulte wütend, und das Auto begann uns zu folgen.
»Wer ist das?«, fragte Mum.
»Der Wächter«, erwiderte ich.
25
Am nächsten Morgen war ich zunächst verwirrt, als ich in Mums Zimmer aufwachte. Sie war schon aufgestanden, und nur die geisterhafte Spur ihres Geruchs und ein paar Korkenzieherhaare auf dem Kopfkissen zeugten von ihrer Gegenwart. Ich hörte in der Küche Wasser laufen, Schranktüren wurden zugeschlagen, und die fröhliche Stimme des Radiomoderators schwatzte vor sich hin.
Als ich aufstehen wollte, war ich unglaublich steif. Meine Muskeln schrien förmlich vor Schmerz, als wäre ich in der Nacht einen Marathon gelaufen, und erst jetzt wurde mir klar, wie heftig ich mit dem Einbrecher gerungen haben musste. Ich hinkte ins Badezimmer wie eine alte Frau und zuckte bei jedem Schritt zusammen. Als ich auf dem Klo saß, spürte ich den Schmerz am Steißbein, wo ich auf das Messer gefallen war. Mein Hals tat noch weh, aber das seltsame Kratzen, das ich beim Schlucken verspürt hatte, war verschwunden. Beim Blick in den Spiegel stellte ich erleichtert fest, dass auch meine Augen weniger blutunterlaufen waren. Ich hielt mein Gesicht so nah an das Glas, dass meine Nase es beinahe
Weitere Kostenlose Bücher